Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit geht es um die spannende Frage, inwieweit der Islam in ideeller Hinsicht als Quelle von militantem Widerstand gegen zentralstaatliche Strukturen eine Rolle spielen kann. In diesem Zusammenhang sind besonders Gesellschaften von Interesse, die über einen nennenswerten muslimischen Bevölkerungsteil verfügen und gleichzeitig einem säkularen Staat angehören.
Unter diesen Vorzeichen beschäftige ich mit seit 2010 intensiv mit Tschetschenien, das aufgrund seiner bewegten Geschichte und überschaubaren Größe günstige Voraussetzungen für eine tiefreichende Analyse obiger Fragestellung bietet. Demnach geht hier darum, ob der tschetschenische Islam – wie von russischen Historikern im frühen 19. Jahrhundert postuliert – tatsächlich originär gegen Russland gerichtet war. Die Aussicht, darauf eine Antwort zu geben, ist dabei nicht nur bedeutsam, um etablierte Lehrmeinungen zu revidieren, sondern weil ein adäquates Verständnis von dem Verhältnis, das in Tschetschenien seit jeher zwischen dem Islam und Widerstand gegen den Zentralstaat besteht, die nötige Bedingung dafür schafft, um die gegenwärtigen Prozesse im Nordkaukasus richtig zu verstehen und die 2004 erfolgte Rekonfiguration des Verhältnisses der Tschetschenen zu Russland angemessen zu beurteilen.
Im Ergebnis meiner Forschungen steht ein theoretisches Modell, dass den Islam als mulitfunktionalen Stabilitätsregulator des tschetschenischen Sozialgefüges beschreibt. Mit seiner Hilfe wird es möglich, den Islam als politisches Instrument zu beschreiben, welches im Laufe der Zeit eine Reihe sozial wirksamer Funktionen aggregierte, die es den Tschetschenen ermöglichten, ihre stark fragmentierte Stammesgesellschaft gegenüber der russischen Expansion zu konsolidieren.
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