Russland – ein multiethnischer Staat
Gemäß seiner Rolle als größtes Flächenland der Erde ist Russland, dessen Territorium sich von der Ostsee über den eurasischen Kontinent bis an die Küste des Japanischen Meeres erstreckt, ein multiethnischer Staat. Seit drei Jahrhunderten beherrschen die russischen Machteliten eine Vielzahl verschiedener Völker, die sich durch ihre Sprache, ihre Religion und ihr Brauchtum voneinander unterscheiden. Im Gegensatz zu den Machtkomplexen West- und Mitteleuropas, die seit dem Beginn der Neuzeit niemals dauerhaft, sondern lediglich temporär in Kontakt mit der islamischen Welt kamen (davon ausgenommen bleiben die Balkangebiete, welche das Osmanische Reich seit dem 15. Jahrhundert erobert hatte), ist Russland bereits im 16. Jahrhundert in ein enges, von reger politischer und kultureller Wechselwirkung geprägtes Verhältnis mit ihr getreten. Mit der 1552 erfolgten Zerschlagung des muslimischen Tatarenkhanats von Kazan’ sowie der darauffolgenden Neutralisierung der Tataren-Reiche von Sibirien (1555) Astrachan’ (1556) und dem Krim-Khanat (1783) hat Russland im Laufe seiner Geschichte Gebiete in sein Herrschaftsgebiet inkorporiert, die eine autochthone muslimische Bevölkerung aufwiesen.
Dadurch musste die zarische Regierung bereits früh eine Strategie entwickeln, um muslimische Untertanen in eine christlich geprägte Zivilisation zu integrieren, während Moskau in der UdSSR vor der Aufgabe stand, die Muslime des Landes in einem Staat mit atheistischer Doktrin zu zwingen. Während dieses Unterfangen an der Mittleren Wolga ungewöhlich großen Erfolg hatte, wo es den tatarischen Muslimen tatsächlich gelang, trotz ihres islamischen Bekenntnisses den Anschluss an ein weltliches Leben zu finden und ihre religiöse einer staatlichen Identität unterzuordnen, stieß es vor allem im Nordkaukasus auf gravierende Probleme. Darüber hinaus wirkten sich auch die traditionsreichen Kriege aus, die Russland gegen das safawidische Persien sowie das Osmanische Reich um die Vorherrschaft im Kaukasus geführt hat. Durch die Gesamtheit dieser Prozesse verfügt das Land über die insgesamt größte Erfahrung im Umgang mit Muslimen.
Probleme bei der Integration von Muslimen
In einer Region wie dem Nordostkaukasus, wo der Widerstand gegen die russische Expansion bereits seit dem 18. Jahrhundert islamisch legitimiert wurde, konnte sich die religiöse Demarkationslinie, die ideellerweise Muslime von den orthodoxen Russen trennte, durch anhaltende Konflikte stärker als anderswo in das Bewusstsein der Menschen einbrennen, wodurch eine Kultur der Ablehnung gegenüber Russland entstand. Die Bereitschaft, sich in die europäisch-russisch geprägte Gesellschaft des Zarenreichs zu integrieren, wurde hier seither als Abkehr vom Islam verstanden und galt besonders in jenen Gebieten als unzulässig, wo sich unter den Muslimen eine besonders starke Konformität gegenüber den islamischen Dogmen herausgebildet hatte.
Zusätzlich verkompliziert wurde diese Entwicklung durch die Unfähigkeit des russischen Zentralstaates, jene Funktion angemessen zu deuten, die der Islam in den Gesellschaften der muslimischen Bergstämme spielte. Durch eine auf Fehlannahmen beruhende Religionspolitik wurde der islamische Fundamentalismus kontinuierlich gesteigert und konnte somit zu einem etablierten Instrument des politischen Kampfes werden, dessen sich die Muslime im Laufe der Geschichte immer wieder bedienten. Dass es Russland auch nach 1991 nicht gelang, dieses Problem zu lösen, belegen die Tschetschenienkriege und ihre Folgen.
Europa kann von den Erfahrungen Russlands lernen
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht Europa vor der Herausforderung, die muslimische Bevölkerung seiner Mitgliedsstaaten in deren Gesellschaften zu integrieren. Bei dieser äußerst schwierigen Aufgabe könnte es auch von den Erfahrungen profitieren, die Russland auf diesem Gebiet gemacht hat. Wie erwähnt, zeigt sich dabei, dass Integration besonders dann ein Problem darstellt, wenn das Bewusstsein der Muslime von einer antieuropäischen Tradition bestimmt ist. Da ein Großteil der in Europa lebenden Muslime sowie jene, die im Zuge der gegenwärtigen Migrationskrise nach Europa kommen, aus Regionen stammen, in denen der Islam seit Jahrhunderten herrscht und in dieser Weise die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökonomischen Sphären tief geprägt hat, wird deutlich, dass sich die Voraussetzungen für eine gelungene Integration dramatisch verschlechtern, sofern der Staat keine praktikablen Konzepte vorweisen kann.
Egal, ob es um Muslime geht, die sich aus religiösen Gründen von der Mehrheitsgesellschaft abwenden, oder um solche, deren Ziel darin besteht, die eigenen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft mit Gewalt durchzusetzen – Russland verfügt hier über umfangreiche Erfahrungen. Die dabei begangenen Fehler gilt es ebenso zu vermeiden, wie von bewährten Schritten zu profitieren.