Russische Kolonialpolitik
Von Anfang an war Russland im Nordkaukasus als Kolonialmacht in Erscheinung getreten. Nachdem das Zarenreich zu Beginn des 18. Jahrhunderts seine Stellungen in der Region gefestigt und an den großen Flussläufen Militärforts errichtet hatte, begannen seine Streitkräfte unverzüglich damit, in die im Süden gelegenen Ländereien vorzudringen, welche bis an die Ausläufer der großen Hauptgebirgskammes heranreichen. Um diese rasch der eigenen Kontrolle zu unterwerfen, etablierte das Zarenreich vor Ort zunächst eine eigene Militärverwaltung, die für die Organisation neuer Feldzüge zuständig war und zudem die Aufgabe hatte, die verfügbaren Truppen auf die noch nicht miteinander zusammenhängenden Einzelgebiete der eigenen Einflusssphäre zu verteilen. Das Ansinnen, die von den Tschetschenen bewohnten Teile der Ebene dauerhaft zu kontrollieren, stellte sich jedoch schnell als große Herausforderung heraus und war mit den damaligen Mitteln der Kriegführung kaum umsetzbar. Zwar sahen sich alle autochthonen Stämme des Gebirges, deren Gebiete gleichermaßen von der Expansion der Russen betroffen waren, einem Feind gegenüber, dessen numerische wie technologische Überlegenheit immens war. Gleichwohl hatten sie einen entscheidenden Vorteil. Im Gegensatz zu den russischen Soldaten, die nicht selten aus entlegenen Teilen des Reichs stammten und den Kampf im Gebirge nicht kannten, waren die Tschetschenen bestens mit dem unwegsamen Gelände vertraut, konnten sich frei in ihm bewegen und waren dazu in der Lage, sich trotz seiner kargen Verhältnisse aus ihm zu ernähren. Darüber hinaus kontrollierten sie das Mittel- und Hochgebirge, deren kalte Felsen und unfruchtbarer Boden das Gebiet für Fremde zu einer terra incognita machten.
Russlands Politik der verbrannten Erde
Infolge permanenter Militäreinsätze, die das Zarenreich als Reaktion auf die Erhebung von 1757 bis 1783 in Tschetschenien führte, war die fruchtbare, mit Schwarzerde gesegnete Ebene des Landes für mehr als zwei Jahrzehnte zu einem dauerhaften Kriegsschauplatz geworden. Im Gegensatz zu anderen Völkern, auf welche das Zarenreich bei seiner Expansion in die Gebiete jenseits des Ural gestoßen war, zeigten die Tschetschenen eine Widerstandsfähigkeit, die selbst erfahrene Offiziere in dieser Form noch nicht erlebt hatten. Ihnen war es unbegreiflich, dass ein – wie man auf russischer Seite zu wissen glaubte – wilder Bergstamm dazu in der Lage sein konnte, sich dem Kolonisationsdruck des Zarenreichs so lange erfolgreich entgegenzustellen. Aus diesem Grund wurde die Unterwerfung Tschetscheniens schnell zur Chefsache. Im Jahre 1783 macht es sich Fürst Potemkin zur Aufgabe, welcher in jenen Tagen den Oberbefehl vor Ort innehatte, den Widerstand der Tschetschenen endgültig zu brechen.
Dazu bediente er sich einer Taktik, die darauf abzielte, sämtliche Lebensgrundlagen zu vernichten, die der in der Ebene lebenden Bevölkerung zur Verfügung standen. Da Potemkin bei der Durchsetzung russischer Interessen wenig sentimental war, empfahl er Zarin Katharina II. gar, alle Tschetschenen zu ihren Stammesgenossen ins Gebirge zu treiben, deren Winterweiden in tiefer gelegenen Gebieten zu zerstören, um somit einer Hungerkatastrophe im Volk auszulösen. Bei dieser Rigorosität handelt es sich um ein Element, das die russische Politik in Zeiten des Krieges auch später auszeichnete und sich auch im Kontext der jüngsten Tschetschenienkriege nachweisen lässt. Man kann konstatieren, dass weder das Zarenreich noch die Sowjetunion im Rahmen militärischer Aktionen in Tschetschenien jemals Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen und damit unsägliches Leid unter den Menschen verursacht haben.
Einen stichhaltigen Beleg für diesen Befund liefert der in Europa weitestgehend unbekannte Kaukasus-Krieg (1817-1864). Auf der Folie seiner Ereignisse lässt sich der repressive Charakter der russischen Kolonialpolitik sichtbar machen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zog das Zarenreich massive Kräfte zusammen, um die nördlich des Großen Kaukasus gelegenen Gebiete zu unterwerfen. Die Notwendigkeit dazu ergab sich auch aus der Tatsache, dass das 1783 annektierte Georgien seit 1801 endgültig unter russische Oberherrschaft geraten war, mit der Folge, dass sich Tschetschenien nun nicht mehr an der Reichsgrenze befand, sondern im Landesinneren lag. Die Vorstellung, interne Reichsgebiete nicht restlos zu kontrollieren, war dem im selben Jahr inthronisierten Alexander I. zuwider, weshalb er seine Offiziere mit großem Nachdruck dazu drängte, die nordkaukasischen Territorien für Russland zu gewinnen. Diesen Imperativ nahm sich besonders der für seine Ruchlosigkeit und Entschlossenheit gekannte General Aleksej Petrovič Ermolov zu Herzen. Als aufstrebender Offizier, der sich bereits im Krieg gegen Napoleon als Leiter des Generalstabs von Michail Kutuzov hervorgetan hatte, bekleidete er seit 1816 das Amt des Oberbefehlshabers der russischen Streitkräfte im Kaukasus. Nachdem er zunächst auch als diplomatischer Sondergesandter für Persien gewirkt hatte, begann Ermolov sogleich mit der Ausarbeitung eines Plans zur Unterwerfung Tschetscheniens, dessen Umsetzung bereits 1818 erfolgte.
Gewalt, Repressionen und Deportation
Um den Widerstand der Ermolov als kriminell, barbarisch sowie von islamischem Fanatismus beseelt geltenden Tschetschenen zu brechen, begannen nun großangelegte Umsiedlungen, bei denen man auch die im russischen Einflussgebiet lebende Bevölkerung von ihren fruchtbaren Ländereien vertrieb und sie nach Süden abdrängte, wo sie sich entweder im Vorgebirge niederlassen oder in die Berge fliehen konnten. Den auf Geheiß des Zaren geführten Krieg, der 1817 zunächst in Dagestan ausbrach, 1840 auf Tschetschenien übergriff und durch das Aufbegehren der Tscherkessen schließlich auch den Nordwestkaukasus erfasste, konnte das Zarenreich erst 1864 zu seinen Gunsten entscheiden. Infolge des Sieges, der sowohl die russische Armee als auch die muslimischen Bergstämme immense Verluste gekostet hatte, wurden die Tscherkessen – vormals das größte autochthone Kaukasusvolk – sowie Teile von Tschetschenen und Inguschen 1865 ins Osmanische Reich und den Nahen Osten deportiert. Obwohl das Zarenreich nun eine militärische Infrastruktur in den unzugänglichen Berggebieten errichtete und ihre Bewohner damit stärker als zuvor der eigenen Kontrolle unterwarf, sowie die Ländereien des Nordkaukasus in das eigene Staatsgebiet inkorporierte, brach bereits 1877 ein weiterer Großaufstand in Tschetschenien aus. Zwar gelang es dem russischen Militär erneut, auch diese Revolte niederzuschlagen, doch blieb das Kernproblem ungelöst. Dabei ging es um die Frage, wie die Integration der Tschetschenen in die russische Gesellschaft gelingen konnte. Dass es dem Zareneich bis 1917 nicht gelang, darauf eine befriedigende Antwort zu geben, hatte damit zu tun, dass es sich bis zuletzt als unfähig erwiesen hatte, auf die sozialen und politischen Unruhen im Lande anders als mit militärischer Gewalt zu reagieren.
Die Sowjetzeit – Deportation und Ausgrenzung
Somit traten die Bolschewiki 1920 ein schweres Erbe an. Ungeachtet des von Lenin proklamierten Völkerfrühlings sowie des von ihm formulierten Versprechens, die Bergstämme des Nordkaukasus von der exploratorischen Zarenherrschaft zu befreien und ihnen künftig das Recht auf Selbstbestimmung zu garantieren, stellte sich bereits nach kurzer Zeit das Gegenteil heraus. Nicht nur war die Sowjetunion weit weniger dazu bereit, die althergebrachte Lebensweise der Bergstämme als gegeben zu akzeptieren, sondern setzte ihre eigenen Vorstellungen von sozialer und politischer Ordnung zudem auch mit ungeahnter Vehemenz durch. Dabei handelt es sich um eine Eigenschaft der sowjetischen Politik, die unter Stalin ihre insgesamt stärkste Ausprägung erreichte, was dazu führte, dass man Tschetschenen und Inguschen 1944 aus ihrer historischen Heimat nach Zentralasien deportierte.
Nachdem beiden Völkern 1956 schließlich die lang ersehnte Heimkehr gelang, mussten sie feststellen, dass Moskau eine Gesellschaftsordnung in ihrer Heimat etabliert hatte, die auf ihre systematische Marginalisierung abzielte. Dadurch waren Tschetschenen und Inguschen nach ihrer Rückkehr zu Bürgern zweiter Klasse geworden, die weitestgehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren und vor allem die Dörfer bewohnten, während sie in der Republikhauptstadt Grozny eine Minderheit darstellten. Erst im Zuge der von Gorbatschow initiierten Liberalisierungen begann sich diese Situation zugunsten von Tschetschenen und Inguschen zu verändern – mit ungeahnten Folgen. Nach dem Kollaps der UdSSR waren die irredentistischen Strömungen in Tschetschenien schließlich so stark geworden, dass rasch die Forderung nach vollständiger politischer Souveränität gegenüber Moskau formuliert wurde – eine Idee, die Präsident Jelzin, der die weitere Eruption Russlands mit allen Mitteln zu verhindern suchte, unter keinen Umständen akzeptieren wollte.
Die Tschetschenienkriege der postsowjetischen Phase
Als mit Dschohar Dudaev schließlich ein ehemaliger Luftwaffengeneral der Roten Armee zum ersten demokratisch legitimierten Präsidenten Tschetscheniens gewählt wurde, lenkte ein Mann die Geschicke der Tschetschenen, der bewusst nationalistische Tendenzen in der Bevölkerung schürte und damit leichtfertig eine Eskalation des Konflikts in Kauf nahm. Somit dauerte es nicht lange, bis Moskau den gesuchten Vorwand für eine militärische Intervention fand. Wie in den zahlreichen Kriegen zuvor, basierte die Logik der russischen Tschetschenienpolitik erneut auf halbherziger Diplomatie sowie der wenig durchdachten Anwendung militärischer Gewalt. Im Gegensatz zu früheren Zeiten konnte nun allerdings eine breite mediale Öffentlichkeit das Kriegsgeschehen verfolgen. Dabei wurde deutlich, dass Moskau zur Durchsetzung seiner Interessen keine Kompromisse einging und selbst vor Opfer unter der Zivilbevölkerung nicht zurückschreckte.
Wie so oft in der Vergangenheit gelang es nun ebenfalls nicht, den eskalierten Konflikt mithilfe militärischer Gewalt zu lösen. Bis Moskau verstand, dass eine Befriedung Tschetscheniens nicht ohne die Kooperation mit regionalen Eliten funktionieren konnte, vergingen viele Jahre. Dabei handelt es sich um eine Zeit, die in erster Linie von der viralen Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus geprägt war, dessen Angehörige sich nun in Tschetschenien versammelten, um gewaltsam gegen Russland und dessen Verbündete vorzugehen. Ihr Ziel war es, einen islamischen Staat im Nordkaukasus zu schaffen. Im Ergebnis dieser Entwicklung kam es 1999 zu einem weiteren Krieg, der Destabilisierung des gesamten Nordostkaukasus sowie zu einer Serie verheerender Terroranschläge in Russland und weiterer Gewaltverbrechen.
Erst als Moskau davon absah, seinen Machtanspruch ausschließlich mittels repressiver Maßnahmen durchzusetzen und stattdessen die Partei um Achmat Kadyrov und dessen Sohn zu unterstützen sowie das Land durch positivistische Maßnahmen zu stabilisieren, sollte eine nachhaltige Entschärfung des Konflikts gelingen. Obwohl Tschetschenien nunmehr seit Jahren eine Phase des Friedens erlebt, bleiben die entscheidenden Fragen unbeantwortet: Wird es auf Dauer möglich sein, Frieden und Wohlstand im Land zu gewährleisten? Und wie wird die Politik Russlands reagieren, sofern dies nicht gelingt?