Das Stigma des religiösen Fanatismus
Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts tragen die Tschetschenen das Stigma des religiösen Fanatismus. Das zugrunde liegende Narrativ eines fundamentalistischen, gegen Russland gerichteten Islam ist damit beinahe ebenso alt wie die bilateralen Beziehungen selbst. Entscheidend ist, dass sich dieses negative Bild jahrhundertelang nicht verändert hat, sondern von den politischen und kulturellen Eliten Russlands manifestiert und weitergegeben wurde. Als Tschetschenien im Zuge der postsowjetischen Kriege gegen die Russische Föderation in den frühen 1990er Jahren erstmals einer breiten Öffentlichkeit in Westeuropa bekannt wurde, übernahmen die nationalen Medien rasch das russische Paradigma, welches Moskau gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft nun zur Erklärung des Konfliktes heranzog.
Indem russische Staatsmedien verstärkt Bilder von tschetschenischen Kämpfern zeigten, die ihren Kampf als Dschihad deklarierten und sich im Rekurs auf den Islam zu mehreren Terroranschlägen in Russland bekannten, sollte die eigene Sichtweise untermauert werden. Dabei kam Moskaus Darstellung zugute, dass tschetschenische Freischärler unter der Führung von Schamil Basaev im Sommer 1999 Dagestan überfielen, um dort ein islamisches Staatswesen zu schaffen. Ferner wirkte sich der Umstand aus, dass sich nun eine radikalislamische Untergrundbewegung herausbildete, die 2007 das sog. Kaukasus-Emirat konstituierte, welches sich 2014 dem Islamischen Staat anschloss.
Richtig ist, dass es in Tschetschenien heute eine stetig wachsende Anzahl von überwiegend jungen Muslimen gibt, die sich für eine orthodoxe Lesart ihrer Religion entschieden haben und damit nach europäischen Maßstäben als Salafisten gelten. Dieser Befund darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um eine neuerliche Erscheinung handelt, die nichts mit dem in Tschetschenien traditionell verwurzelten Islam zu tun hat.
Traditioneller Islam – der Sufismus
Tatsächlich ist in Tschetschenien seit dem frühen 17. Jahrhundert der sunnitische Islam beheimatet, der im frühen 19. Jahrhundert dann durch den Sufi-Orden (Tarikat) Naqšbandīja-Ḥalīdiīja gefestigt wurde. Jene gelangte vermutlich im 16. Jahrhundert nach Dagestan, wo sie seit dem 19. Jahrhundert eine streng an der Scharia orientierte Ausrichtung aufweist. Nach dem Ende des Kaukasus-Krieges (1817-1864), der im Jahre 1859 zur Unterwerfung Tschetscheniens führte, konnte sich schließlich unter der Ägide des Predigers Kiši Khant Kunt Ḣaž, der heute als Nationalheiliger verehrt wird, mit der Qādirīya ein weiterer Sufi-Orden in Tschetschenien etablieren. Im Gegensatz zu der als Muridismus bekannten Lehre der Naqšbandīja-Ḥalīdiīja, die explizit gegen die russische Präsenz im Nordkaukasien richtete, verfolgte die Qādirīya eine ausschließlich pazifistische Agenda, welche die Gläubigen dazu aufrief, den Kampf unverzüglich einzustellen und sich stattdessen der Pflege religiöser Belange zu widmen.
Erst als die zarische Militärverwaltung den Orden, dessen öffentlich vollzogene Rituale ihre Beamten mit Sorge verfolgten, 1864 als akute Bedrohung identifizierte, begann die Qādirīya ihre Haltung zu verändern. Per Gesetz verboten und durch staatliche Repression in den Untergrund getrieben, wurden der Orden und seine Mitglieder in der Folge zu den Trägern einer gegen den Zentralstaat gerichteten Widerstandsbewegung, deren Kampf das politische Klima der 1920er und 1930er Jahre bestimmte und bis ins Jahr 1944 dauerte, als das gesamte tschetschenische Volk am 23. Februar nach Zentralasien deportiert wurde.
Das Beispiel der Qādirīya ist in Russland nahezu unbekannt, obwohl es illustriert, dass die Tschetschenen trotz ihrer gewaltsamen Unterwerfung durch den zarischen Zentralstaat sehr wohl dazu in der Lage waren, sich vom Konzept des Dschihad zu distanzieren und damit einen Beitrag zu einem friedlichen Ausgleich zu leisten. Dies bedeutet im Analogieschluss, dass die zunehmende Dominanz radikalislamischer Kräfte während der beiden Tschetschenienkriege sowie der zwischen ihnen liegenden Übergangsperiode keinesfalls zwangsläufig war und somit als Argument für die vermeintliche Radikalität der Tschetschenen wenig verfänglich ist.
Salafismus vs Sufismus
Gleichwohl hat der Krieg gegen Russland zur Ausbreitung des Salafismus in Tschetschenien geführt, dessen Lehre die Legitimität des traditionellen Sufi-Islam fortwährend infrage stellt und wachsende Akzeptanz bei jungen Menschen findet. Diese Entwicklung ist mit großen Gefahren verbunden, da sie ohne Zweifel zur Spaltung der tschetschenischen Gesellschaft führen kann. Die meisten Tschetschenen, die für den Islamischen Staat in Syrien kämpfen, haben sich in der Regel vom Sufismus abgewandt, dessen Traditionen sie als illegitime Neuerungen des Islam ablehnen. Um die Ausbreitung des Salafismus zu verhindern, geht die tschetschenische Regierung mit großer Vehemenz gegen dessen mutmaßliche Anhänger vor. Für Menschen, die unmittelbar von dieser Politik betroffen sind, ist dadurch ein Klima entstanden, dass einen Verbleib in Tschetschenien erschwert. Um sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen, haben zahlreiche Menschen das Land Richtung Europa verlassen.
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