Liebe Besucher,
im Folgenden möchte ich Ihnen drei Themen nahebringen, mit denen ich mich seit vielen Jahren beschäftige und die politisch eine große Bedeutung für Deutschland haben.
Migration aus Tschetschenien
Tschetschenien ist eine autonome Republik im Süden Russlands und gehört zum Föderationskreis Nordkaukasus. Mit einer Fläche von 15.647 km² hat es etwa die Größe Thüringens, verfügt jedoch über eine geringere Bevölkerungszahl, die zum 1. Januar 2018 bei 1.43 Millionen lag. Bei der indigenen Landesbevölkerung handelt es sich um einen autochthonen Kaukasusstamm, der bereits lange vor Beginn der Aufzeichnungen in der Region ansässig war. Durch eine enge ethnische wie sprachliche Verwandtschaft sind die Tschetschenen mit den Inguschen und den im georgischen Pankissi-Tal lebenden Kistinen verbunden, mit denen sie gemeinsam die Gruppe der Wainachen bilden.
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts haben die Tschetschenen mit einigen Unterbrechungen einen permanenten Abwehrkampf gegen den russischen Zentralstaat geführt, dessen jüngste Episode die postsowjetischen Tschetschenienkriege bilden. Die treibende Kraft dieses Widerstands entsprang ursprünglich der auf Freiheit und Gleichheit beruhenden Gesellschaft der Tschetschenen sowie ihrer genuinen Unbeugsamkeit gegenüber fremden Herren: als nordkaukasischer Bergstamm hatten sie sich niemals dauerhaft äußeren Mächten unterworfen, sondern waren im nördlichen Teil des großen Kaukasushauptzuges unter sich geblieben. Folglich hatten sie bis zum Beginn der russischen Expansion keinerlei Erfahrungen mit Staatlichkeit und feudalen Strukturen gemacht, die das Zarenreich nun zu etablieren suchte. Im Jahr 1785 gewann der antikoloniale Widerstand erstmals eine islamische Komponente und erhielt damit ein Element, das in der Folgezeit eine immer größere Rolle für die Aufrechterhaltung des Kampfes spielte und noch bis heute wirksam ist.
In Deutschland ist die ereignisreiche Geschichte der Tschetschenen, die neben kriegerischen Konflikten auch deren Deportation umfasst, kaum bekannt. Dies begann sich erst durch den separatistischen Konflikt mit Moskau (1994-2009) zu ändern, als die Tschetschenen versuchten, sich infolge des sowjetischen Zerfalls vollumfänglich vom russischen Zentralstaat zu emanzipieren, wofür sie in den russischen Medien als kriminelle, islamische Fanatiker diffamiert wurden.
Durch den Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges verloren in den frühen 2000er Jahren tausende Tschetschenen endgültig ihre Heimat, woraufhin erstmals eine größere Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland gelangte. Das Jahr 2013 markiert indes den Beginn einer weiteren Migrationsbewegung in die Bundesrepublik, die im September 2015 zusätzlich verstärkt wurde.
Heute stehen Staat und Gesellschaft vor der Herausforderung, mit der Anwesenheit von Menschen aus Tschetschenien umzugehen. Im Rahmen ihrer Integration geht es darum, Familien den Anschluss an die hiesige Zivilgesellschaft zu ermöglichen, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu unterstützen, ihnen Orientierungshilfe zu geben und zu versuchen, die Traumata von Krieg und Gewalt zu lindern. Diese Aufgabe ist freilich nicht einfach. Neben Unterschieden in der Mentalität und dem traditionellen Brauchtum spielt dabei vor allem der Islam eine Rolle. Zudem hat die Erfahrung gezeigt, dass eine kleine Gruppe der Geflüchteten aus Tschetschenien in Deutschland kriminell geworden ist.
Obwohl es sich dabei ausdrücklich um eine Minderheit handelt, zeigen sich die Sicherheitsbehörden über deren Potential äußerst besorgt. Gleichzeitig müssen Staat und Gesellschaft aber auch dafür sorgen, den alten, in Russland tradierten Stereotypen entgegenzuwirken, welche die Reputation der Tschetschenen stark beschädigt hat. Dabei müssen sie deutlich machen, dass Menschen aus Tschetschenien keineswegs krimineller sind als andere Bevölkerungsteile, sondern bis heute unter den Folgen einer perfiden Propaganda leiden.
Das Verhältnis von Islam und Widerstand gegen staatliche Strukturen
Kaum einem Thema kommt gegenwärtig derart viel Bedeutung zu wie dem Islam. Die politische Debatte in Deutschland ist dabei im Wesentlichen von der Frage geprägt, ob der Islam, verkörpert durch etwa 4 Millionen Muslime und institutionalisiert durch eine Vielzahl verschiedener Einrichtungen, mit seinen ethischen, politischen, juristischen und sozialen Vorstellungen zur freiheitlich-demokratischen Gesellschaft europäischer Staaten passt. Der seit Jahren global wütende islamische Terrorismus hat der Beantwortung dieser Frage eine zusätzliche Dringlichkeit verliehen, die politische Parteien mehr denn je dazu zwingt, praktikable Lösungsvorschläge anzubieten und den Bürgern ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle zu vermitteln.
Obwohl die von islamischen Fundamentalisten gegen westliche Gesellschaften verübte Gewalt seit dem 11. September 2001 eng mit der Außenpolitik der USA verwoben ist, kann Russland in diesem Bereich auf weit mehr Erfahrungen zurückblicken. Im Zuge seiner territorialen Expansion hat es seinem Herrschaftsbereich mehrmals Gebiete einverleibt, die bis heute von einer muslimischen Bevölkerung bewohnt und somit islamisch geprägt sind. Dies hat dazu geführt, dass zahlreiche muslimische Völker ihren Kampf gegen Russland scheinbar im Namen des Islam führten und den Widerstand gegen die russische Expansion zu einer heiligen Pflicht der Muslime sowie zum sakralen Dienst an der Religion erklärt haben.
Das wohl bekannteste Gebiet Russlands, dessen politische Vergangenheit sich mit diesem Paradigma fassen lässt, ist der Nordkaukasus. Wie erwähnt, tobt hier seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein Kampf zwischen den muslimischen Bergstämmen und Russland, dessen Folgen bis in die jüngste Vergangenheit reichen. Der wohl bekannteste Begriff, den man in Europa mit diesem Konflikt assoziiert, ist Tschetschenien. Wie kaum ein anderes Volk haben die Tschetschenen das Streben der Zaren und deren Nachfolger, ihr Land zu erobern und sie mit Gewalt unter das eigene Zepter zu zwingen, stets mit fanatischem Widerstand beantwortet. Selbst der von Stalin geführten Sowjetunion, die die Tschetschenen am 23. Februar 1944 aus ihrer historischen Heimat nach Zentralasien deportierte, gelang es nicht, sie vom Islam abzubringen, geschweige denn, ihre Renitenz zu brechen.
Im Rahmen meiner Forschungen untersuche ich das Verhältnis von Islam und Widerstand, wobei es vor allem um die Frage geht, inwieweit religiöse Motive für den jahrhundertelangen Kampf gegen den Zentralstaat eine Rolle gespielt haben.
Als im Dezember 1994 der Erste Tschetschenienkrieg begann, nachdem sich Moskau geweigert hatte, auf die Forderungen der Tschetschenen nach politischer Souveränität einzugehen und sie wie Georgier, Armenier, Aserbaidschaner, Ukrainer, Weißrussen, Balten und die zentralasiatischen Turkvölker in die Freiheit zu entlassen, kam es zu einer verheerenden Eskalation der Gewalt. Weitaus wichtiger aber war, dass sich im Zuge zweier Kriege, die Moskau gegen das kleine Kaukasusvolk entfesselte, eine virulente Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus abzeichnete, die nicht nur Tschetschenien, sondern auch den gesamten Nordostkaukasus ins Chaos stürzte und Russland die grausamsten Terroranschläge seiner Geschichte bescherte.
Der Befund, dass eine Gesellschaft wie die tschetschenische, die mehr als siebzig Jahren unter dem Einfluss einer Staatsmacht mit atheistischer Doktrin stand, innerhalb kürzester Zeit einen fruchtbaren Nährboden für islamischen Terrorismus entwickelte, hat verschiedene Gründe und lässt sich nur im Rahmen von wissenschaftlichen Forschungen plausibel erklären. Gleichwohl ist der ihm zugrunde liegende Mechanismus auch für das Europa des 21. Jahrhunderts von Bedeutung. Denn im Kontext des aktuellen Weltgeschehens hat die Erkenntnis einen überhaus hohen Wert, der zufolge aus Gesellschaften, die das Zeitalter, da Religionen als politische Kraft in Erscheinung traten, bereits überwunden geglaubt hatten, unter bestimmten Umständen eine unverhoffte Renaissance des religiösen Glaubens erleben. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das auch Deutschland betrifft.
Vor diesem Hintergrund verfolgen die hier veröffentlichten Beiträge nicht nur das Ziel, den Islam und sein Wiedererstarken am Beispiel Tschetscheniens zu präsentieren, sondern darüber hinaus auch jene Folgen zu beschreiben, die sich aus seiner gegenwärtigen Präsenz in Deutschland ergeben – einer Erscheinung, von der man annehmen darf, dass sie in Zukunft immer größere Bedeutung gewinnen wird.
Die europäischen Beziehungen zu Russland
Noch immer ist Russland für viele Menschen ein Land der Ferne – ein Land, das nur wenige je betreten, noch weniger aber verstanden haben. Dieser Befund lässt sich nicht aus der geographischen Entfernung, die uns tatsächlich von Russland trennt, als vielmehr aus der geistigen Mauer ableiten, die seit langer Zeit zwischen Europa und seinem größten Nachbarn besteht. Anders als man meinen könnte, kann man diese imaginäre Demarkationslinie jedoch nicht erst in der Zeit nach 1945 skizzieren, da der Antagonismus zwischen Europa und der Sowjetunion seinen vorläufigen Kulminationspunkt erstieg, sondern reicht in Wahrheit viel weiter in die Geschichte zurück.
Bereits in der frühen Neuzeit stand das Zarenreich bei europäischen Herrschern im Ruf, eine rückständige und bizarre Regionalmacht zu sein, die an der Größe ihres eignen Territoriums scheiterte. Für die aus europäischer Sicht in Hinblick auf Russland empfundene Andersartigkeit war ohne Zweifel verantwortlich, dass das Moskauer Zarentum zweihundert Jahre lang von den Mongolen beherrscht worden war, deren Herrschaft man heute als das “tatarische Joch” bezeichnet. Die Primordialität der russischen Kultur leitete sich aber auch aus ihrer religiösen Konfession ab. Im Gegensatz zu den Völkern des europäischen Kontinents, die bis zur Reformation dem katholischen Bekenntnis folgten, existierte in Russland seit dem Jahr 988, als die Kiever Rus’ getauft wurde, eine orthodoxe Zivilisation, die ihr kulturelles Erbe auf Byzanz zurückführte, dessen Hauptstadt Konstantinopel – bis dahin das Zentrum der orthodoxen Christenheit auf Erden – 1453 von den Osmanen erobert wurde.
Nach dem 1991 erfolgten Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa bot sich eine historische Gelegenheit, um das Verhältnis Deutschlands und seiner westlichen Bündnispartner zu Russland neu zu definieren. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass diese Chance leichtfertig vertan worden ist. Denkschemata aus Zeiten des Kalten Krieges folgend, haben sich die von den USA geführten Nato-Staaten Europas zu einer in Teilen überheblichen und bisweilen von einer kruden Doppelmoral geprägten Politik verleiten lassen, welche auf die politische Isolation Moskaus abzielt und offenkundig das Ziel verfolgt, die russischen Ambitionen, im 21. Jahrhundert eine Weltmacht zu sein, mit allen Mitteln zu konterkarieren. Dass ein benachteiligtes, ja isoliertes Russland jedoch weder im Interesse Deutschlands, geschweige denn, Europas sein kann, wird dabei oft übersehen. Diese Feststellung wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die bedeutenden Konflikte unserer Zeit – unwichtig, ob der islamische Terrorismus, wie etwa in Syrien, die globale Migration oder Fragen der globalisierten Wirtschaft – ohne eine Einbindung Moskaus kaum lösen lassen.
Gelingt es nicht, ein neues Konzept für den politischen Umgang mit Russland zu entwerfen, das es als kontinentale Großmacht anerkennt und davon absieht, die russische Außenpolitik durch das Prisma der eigenen Moral zu betrachten, wird dies negative Auswirkungen auf die Beziehungen zu Moskau haben und könnte zu einer Isolation der europäischen Staaten auf dem Kontinent führen. In einer Zeit, da selbst die USA und Großbritannien ihre außenpolitische Bündnispolitik neu konfigurieren und die Europäische Union durch die ökonomische Leistungsschwäche ihrer südlichen Sphäre bereits seit Jahren in einer akuten Krise steckt, sollte Deutschland keine Politik machen, die seine Beziehungen zu Moskau leichtfertig aufs Spiel setzt. Damit dies nicht passiert, muss Berlin jedoch die Andersartigkeit Russlands anerkennen und einsehen, dass ein von europäischen Standards geprägtes Russland Utopie ist.
Die auf diesem Portal veröffentlichen Beiträge folgen daher dem Ansinnen, dem geneigten Leser Einblicke in die Geschichte und Politik Russlands zu gewähren und ihm damit Perspektiven zu eröffnen, die sich nach vielen Jahren der Arbeit und des Aufenthalts in Russland eingestellt haben.
Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Bilder zu Tschetschenien und dem Nordkaukasus von Timur Agirov
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