Russland und Europa – ein problembelastetes Missverhältnis
Noch immer ist Russland für viele Menschen ein Land der Ferne – ein Land, das nur wenige je betreten, noch weniger aber verstanden haben. Dieser Befund lässt sich nicht aus der geographischen Entfernung, die uns tatsächlich von Russland trennt, als vielmehr aus der geistigen Mauer ableiten, die seit langer Zeit zwischen Europa und seinem größten Nachbarn besteht. Anders als man meinen könnte, kann man diese imaginäre Demarkationslinie jedoch nicht erst in der Zeit nach 1945 skizzieren, da der Antagonismus zwischen Europa und der Sowjetunion seinen vorläufigen Kulminationspunkt erstieg, sondern reicht in Wahrheit viel weiter in die Geschichte zurück.
Das frühe Russlandbild
Bereits in der frühen Neuzeit stand das Zarenreich bei europäischen Herrschern im Ruf, eine rückständige und bizarre Regionalmacht zu sein, die an der Größe ihres eignen Territoriums scheiterte. Für die aus europäischer Sicht in Hinblick auf Russland empfundene Andersartigkeit war ohne Zweifel verantwortlich, dass das Moskauer Zarentum zweihundert Jahre lang von den Mongolen beherrscht worden war, deren Herrschaft man heute als das “tatarische Joch” bezeichnet. Die Primordialität der russischen Kultur leitete sich aber auch aus ihrer religiösen Konfession ab. Im Gegensatz zu den Völkern des europäischen Kontinents, die bis zur Reformation dem katholischen Bekenntnis folgten, existierte in Russland seit dem Jahr 988, als die Kiever Rus’ getauft wurde, eine orthodoxe Zivilisation, die ihr kulturelles Erbe auf Byzanz zurückführte, dessen Hauptstadt Konstantinopel – bis dahin das Zentrum der orthodoxen Christenheit auf Erden – 1453 von den Osmanen erobert wurde.
Nach dem 1991 erfolgten Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa bot sich eine historische Gelegenheit, um das Verhältnis Deutschlands und seiner westlichen Bündnispartner zu Russland neu zu definieren. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass diese Chance leichtfertig vertan worden ist. Denkschemata aus Zeiten des Kalten Krieges folgend, haben sich die von den USA geführten Nato-Staaten Europas zu einer in Teilen überheblichen und bisweilen von einer kruden Doppelmoral geprägten Politik verleiten lassen, welche auf die politische Isolation Moskaus abzielt und offenkundig das Ziel verfolgt, die russischen Ambitionen, im 21. Jahrhundert eine Weltmacht zu sein, mit allen Mitteln zu konterkarieren. Dass ein benachteiligtes, ja isoliertes Russland jedoch weder im Interesse Deutschlands, geschweige denn, Europas sein kann, wird dabei oft übersehen. Diese Feststellung wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die bedeutenden Konflikte unserer Zeit – unwichtig, ob der islamische Terrorismus, wie etwa in Syrien, die globale Migration oder Fragen der globalisierten Wirtschaft – ohne eine Einbindung Moskaus kaum lösen lassen.
Wandel durch Annäherung
Gelingt es nicht, ein neues Konzept für den politischen Umgang mit Russland zu entwerfen, das es als kontinentale Großmacht anerkennt und davon absieht, die russische Außenpolitik durch das Prisma der eigenen Moral zu betrachten, wird dies negative Auswirkungen auf die Beziehungen zu Moskau haben und könnte zu einer Isolation der europäischen Staaten auf dem Kontinent führen. In einer Zeit, da selbst die USA und Großbritannien ihre außenpolitische Bündnispolitik neu konfigurieren und die Europäische Union durch die ökonomische Leistungsschwäche ihrer südlichen Sphäre bereits seit Jahren in einer akuten Krise steckt, sollte Deutschland keine Politik machen, die seine Beziehungen zu Moskau leichtfertig aufs Spiel setzt. Damit dies nicht passiert, muss Berlin jedoch die Andersartigkeit Russlands anerkennen und einsehen, dass ein von europäischen Standards geprägtes Russland Utopie ist.
Die auf diesem Portal veröffentlichen Beiträge folgen daher dem Ansinnen, dem geneigten Leser Einblicke in die Geschichte und Politik Russlands zu gewähren und ihm damit Perspektiven zu eröffnen, die sich nach vielen Jahren der Arbeit und des Aufenthalts in Russland eingestellt haben.