Im Gegensatz zu den christlichen Kirchen hat der sunnitische Islam niemals eine Institutionalisierung erfahren und demnach auch keinen Klerus herausgebildet. Stattdessen besteht er bis heute aus einer Vielzahl unabhängiger Gemeinden, die weder in theologischer noch in administrativer Hinsicht eine Einheit darstellen. In europäischen Ländern mit islamischer Minderheit erweist sich dieser Umstand als problematisch, da der Staat keinen Ansprechpartner vorfindet, welcher die muslimische Bevölkerung vertreten bzw. mit der Politik getroffenen Vereinbarungen ihr gegenüber Verbindlichkeit verleihen könnte. Dieser Befund gilt auch für Deutschland: Da der deutsche Staat Beziehungen zu den christlichen Religionsgemeinschaften traditionell auf institutioneller Ebene unterhält, hat er keine Möglichkeit, die Muslime als Kollektiv anzusprechen, was die Umsetzung einer ganzheitlichen Islampolitik erheblich erschwert.
Diese Situation blieb bedeutungslos, solange sich die muslimische Gemeinde auf das Milieu türkischer Gastarbeiter beschränkte, von denen man annahm, dass sie in Zukunft wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Dabei handelte es sich lange Zeit um eine unverrückbare Prämisse, die erst in den 1980er Jahren allmählich aufgegeben wurde. Im Zuge der Bewilligung des Familiennachzuges für in Deutschland lebende, ausländische Arbeitnehmer konnten sich bereits gewachsenen Strukturen islamisch geprägter Migrantenmilieus nachhaltig vertiefen. Der Wegfall der bis dahin obligatorischen Rückkehrpflicht bekräftigte muslimische Interessengemeinschaften, eigene Institutionen – die sog. Islam-Verbände – zu konstituieren und künftig als politische Akteure in Erscheinung zu treten.
Da sich die muslimische Minderheit in Deutschland seit jeher aus verschiedenen Ethnien und religiösen Strömungen zusammensetzt, konnte ihre politische Konsolidierung zunächst nur im Rückgriff auf das Nationalitätenspezifikum erfolgen. Aus diesem Grund sind die Islam-Verbände bis heute nicht primär als konfessionelle, sondern mehr noch als ethnisch-nationale Einheiten organisiert, die folglich nicht die Gesamtheit der Muslime, sondern lediglich eine bestimmte nationale Klientel repräsentieren.
Während die Kirchen durch Verträge, die sog. Konkordate[1], eng an den Staat gebunden sind und im Rahmen ihrer Arbeit die gesetzlichen Vorgaben des Staatskirchenrechts erfüllen müssen, etwa bei der Ausbildung religiöser Würdenträger oder der Ausgestaltung ihrer Lehre, sind die Islam-Verbände keinen derartigen Einschränkungen unterworfen. Um in Deutschland eine islamische Gemeinde zu gründen, die Gottesdienste ausrichtet und religiöse Zeremonien durchführt, bedarf es weder staatlicher Ausbildung, noch existieren hierfür nennenswerte gesetzliche Vorgaben. Die einzige Voraussetzung ist formeller Natur und besteht in der Anmeldung eines eingetragenen Vereins. Dabei handelt es sich um eine Rechtsform, die allen islamischen Institutionen gemein ist, und die durch das deutsche Vereinsrecht normiert wird. Zur Gründung eines Vereins müssen sich mindestens sieben Personen zusammenfinden, die in einer konstituierenden Sitzung eine Satzung beschließen, in welcher die angestrebten Ziele definiert werden.
Der Grundsatz der Vereinsautonomie ist dafür verantwortlich, dass ein Verein bei der Bestimmung seiner Verfassung weitgehend frei agieren kann. In der Satzung der 5. Juli 1984 in Köln gegründeten Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (D.I.T.I.B), dem größten Islam-Verband in Deutschland, heißt es etwa: „Der Verein hat den Zweck, die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden türkischen sowie alle anderen Muslime in allen Angelegenheiten der islamischen Religion zu betreuen, aufzuklären und zu unterweisen, geeignete Räume für religiöse Andachten und Unterweisungen einzurichten und zu unterhalten, oberste theologische Instanzen zu gründen, die richtige Darstellung des Islams zu fördern und die Muslime zu vertreten.“[2] Durch die Wahl eines Vorstandes gilt die Vereinsgründung als abgeschlossen. Schließlich erfolgt die Eintragung in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichtes nach § 21 BGB, wodurch der Verein den Status einer juristischen Person erhält und damit zu einer rechtsfähigen Körperschaft wird. Gelingt es einem Verein, als gemeinnützig anerkannt zu werden, genießt er Steuerbegünstigungen. Dafür ist es nötig, in der Satzung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke zu verfolgen.
Obwohl die Rechtsform des eingetragenen Vereins eine Reihe von Vorteilen mit sich bringt, steht sie derjenigen der christlichen Kirchen doch in verschiedener Hinsicht nach, welche über den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verfügen. Dabei handelt es sich um eine mit öffentlichen Aufgaben betraute juristische Person des öffentlichen Rechts, deren Aufgaben ihr gesetzlich oder satzungsmäßig zugewiesen worden sind.
In dieser Weise profitieren die Kirchen von einem sog. „Privilegienbündel“, das eine Vielzahl einzelner Regelungen enthält, die in Bundes- und Landesgesetzen enthalten sind und ihnen verschiedene Kooperationsrechte garantiert. Dazu zählen etwa die Rechte, mit staatlicher Hilfe eigene Steuern zu erheben[3], Religionsunterricht an öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach zu geben[4], eigene Dienstverhältnisse öffentlich-rechtlicher Natur zu begründen, die einzelnen Kooperationsrechte gemäß dem zugrunde liegenden religiösen Selbstverständnis normativ mit öffentlich-rechtlicher Wirkung autonom auszugestalten (Dienstherrenfähigkeit) sowie alle Angehörigen der eigenen Konfession durch Wohnsitznahme in einem Gebiet als Mitglieder in Anspruch zu nehmen (Parochialrecht). Überdies ist eine Reihe einfach-gesetzlicher Vergünstigungen wirksam, darunter steuer- und gebührenrechtliche Ausnahmetatbestände, die Freistellung von staatlicher Kontrolle beim Erwerb von Immobilien, der besondere Schutz des Eigentums, die obligatorische Berufung von Mitgliedern in Rundfunkräte sowie der Betrieb von Friedhöfen. Schließlich unterliegen die Amtsbezeichnungen, Titel und Würden der Kirchen einem besonderen Schutz, die Beschimpfung ihrer Bekenntnisse ist gemäß § 166 StGB strafbar.
Aus all dem folgt eindeutig, dass die christlichen Kirchen gegenüber islamischen Gemeinden in rechtlicher Hinsicht erheblich privilegiert sind. In dem Streben, diese Ungleichbehandlung aufzuheben und einen möglichst großen Einfluss auf die Gesellschaft zu entfalten, versuchen Islam-Verbände seit einigen Jahren immer wieder, die vollständige rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen zu erreichen; bei der Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts handelt es sich um eine Hürde, an deren Überwindung sie bislang gescheitert sind. Die letzte Entscheidung dieser Art wurde im November 2017 vom Oberverwaltungsgericht Münster gefällt. Zuvor hatten der Zentralrat der Muslime und der Islamrat das Recht eingeklagt, ordentlichen Religionsunterricht als Pflichtfach in Schulen geben zu dürfen. In seiner Urteilsbegründung argumentierte das Gericht, keiner der beiden Kläger erfülle die Voraussetzung, als Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit als Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes anerkannt zu werden. Bis heute ist es lediglich der im sunnitischen Islam als häretisch geltenden Splittergruppe Achmadiyya Muslim Jamaat gelungen, die rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen zu erlangen.
Da die Islam-Verbände aufgrund ihres Wesens als ethnisch-nationale Formationen daran scheitern, die Transformation von Vereinen hin zu Körperschaften des öffentlichen Rechts zu vollziehen, suchen sie nach Mitteln und Wegen, um dieses Ziel dennoch erreichen. Eine wirksame Methode besteht darin, die Durchsetzung ihrer Interessen, die sich weitgehend mit dem Erhalt der im Privilegienbündel garantierten Kooperationsrechte decken, zu einem Akt „gesellschaftlicher Teilhabe“ zu erklären. Diese Formulierung rekurriert offenkundig auf die im Grundgesetz festgeschriebene Gleichwertigkeit religiöser Bekenntnisse, und bietet den Vorteil, die Ausweitung islamischer Einflüsse auf die Gesellschaft unter dem Deckmantel sozialer Partizipation zu vollziehen.
Gleichzeitig soll sie darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Islam-Verbänden in theologischer Hinsicht um erzkonservative Institutionen handelt, deren Agenda lediglich scheinbar den Aufbau einer offenen, multikonfessionellen Gesellschaft zum Ziel hat. Dass in Wahrheit genau das Gegenteil in Aussicht genommen wird, nämlich die schrittweise Etablierung islamischer Normen und Rechtsauffassungen, ist von der Politik bis heute kaum registriert worden, obwohl die Islam-Verbände fortwährend zeigen, dass sie einen zutiefst reaktionär geprägten Islam vertreten.
Als der islamische Theologe Prof. Mouhanad Korchide 2013 ein Buch mit dem Titel Islam ist Barmherzigkeit veröffentlichte, in welchem er für ein liberales Islamverständnis warb, wurde er von den vier Vertretern der Islam-Verbände im Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster scharf attackiert. Ihm wurde vorgeworfen, in seiner Funktion als dessen Leiter ein verfälschtes Bild des Islam zu proklamieren, womit die Forderung begründet wurde, ihm unverzüglich die Lehrbefugnis zu entziehen. Dass die Islam-Verbände theologische Neuerungen nicht nur kritisch gegenüberstehen, sondern diese sogar kategorisch ablehnen, zeigte sich auch im Rahmen der Diskussion um die im Juni 2018 erfolgte Gründung des Instituts für Islamische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität.
Nachdem die Hochschule erklärt hatte, auch Vertreter liberaler islamischer Strömungen, wie etwa die Berliner Rechtsanwältin und Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee Seyran Ates, in den Aufbau der Institution mit einzubeziehen, reagierten die Islam-Verbände mit scharfem Protest und kündigten ihre Zusammenarbeit schließlich auf. Obwohl die genannten Beispiele nur zwei Episoden aus der langen Chronologie solcher Begebenheiten wiedergeben, lassen sie keinen Zweifel an der theologischen Ausrichtung der Islam-Verbände. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Abschluss von Staatsverträgen als ebenso folgenschwere wie verhängnisvolle Praxis, deren Ursprung in Hamburg liegt.
Die Islam-Verbände haben naturgemäß ein vitales Interesse daran, ihre Mitglieder in dem Bewusstsein zu halten, sich zu allererst als Muslime, nicht aber als Staatsbürger und schon gar nicht als Deutsche, zu begreifen. Damit ist die Kluft der Abgrenzung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft das Milieu ihrer Politik. In dieser Haltung liegt ein elementarer Widerspruch zum Integrationskonzept des deutschen Staates begründet, das auf der falschen Prämisse basiert, man könne Muslime in Kooperation mit den Islam-Verbänden staatsbürgerlich erziehen und ihr Bewusstsein dafür schärfen, mündige Mitglieder der säkularen Zivilgesellschaft zu sein. Der Befund, dass dieses Konzept gescheitert ist, lässt sich aus der Tatsache eines seit Jahren ausufernden Salafismus erheben und wird zudem durch die konservative Agenda der Islam-Verbände sowie zahlreiche, daraus resultierende Verstöße gegen demokratisch-säkulare Prinzipien verdichtet.
Man kann feststellen, dass es dem deutschen Staat ist es bislang nicht gelungen ist, diesen Fehler zu beheben, weil seine Führung jede Korrektur ihres Integrationskonzepts als Bedrohung für die Stabilität der Gesellschaft betrachtet. Aus diesem Grund reagiert sie auf die Anforderungen einer Kurskorrektur mit rigidem ideologischen und politischem Dogmatismus, demzufolge die Präsenz islamischer Interessengruppen in Deutschland per se als Gewinn verstanden wird. Aufgrund der fortwährenden Erosion jeglichen Anscheins vernünftiger Ansätze im Bereich der Integration der muslimischen Bevölkerung muss die Herausforderung politischer Parteien darin bestehen, das gescheiterte Konzept durch ein tragfähiges zu ersetzen.
[1] Als Reichskonkordat wird der am 20. Juli 1933 zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich geschlossene Staatskirchenvertrag bezeichnet. In diesem völkerrechtlichen Vertrag wurde das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der römisch-katholischen Kirche geregelt. Es ist weiterhin gültig. Im Gegensatz dazu hat der deutsche Staat eine Reihe verschiedener Verträge mit der evangelischen Kirche geschlossen; der erste dieser Art erfolgte 15. November 1924 zwischen dem Bayerischen Staate und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern rechts des Rheins. [2] Vgl. Vereinssatzung D.I.T.I.B. vom 8.11.2009. S. 1. [3] Das Besteuerungsrecht (Kirchensteuer) ist in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Weimarer Reichsverfassung geregelt. [4] Vgl. Artikel 7. Absatz 3. Grundgesetz. Es ist für die Angehörigen der Religionsgemeinschaft ein Pflichtfach.