Die russische Armee ist vor Kiew gescheitert. Wladimir Putin braucht dringend einen Erfolg. Die geplante Eroberung des Donbas soll daher mit dem wirkmächtigsten aller staatlichen Rituale gekrönt werden: der Siegesparade des 9. Mai. Falls dieses Kalkül aufgeht, wäre das Regime gerettet. Scheitert es, droht eine weitere Eskalation. Abermals setzt der russische Präsident alles auf eine Karte.
Sieben Wochen nach Beginn der russischen Invasion steckt der Kreml in einer Sackgasse. Nicht nur hat sich die Erwartung eines schnellen Erfolgs als Illusion erwiesen. Sondern hat das Massaker von Butscha dem völkermörderischen Grauen des Krieges auch ein russisches Signum verliehen. Während Moskau die Kämpfe unbeirrt fortsetzt, droht das Narrativ einer «Militäroperation» dem Mythos seiner eigenen Bedeutung zum Opfer zu fallen. Dem Regime bleibt nur ein Ausweg. Es muss einen militärischen Erfolg erzwingen. Und ihn in den Glanz des Sieges über Hitler hüllen.
Die Ursprünge des Siegesrituals
In der schwersten Krise seiner Laufbahn bedient sich Wladimir Putin einer Strategie, die ihm selbst in dunkelster Stunde die Unterstützung der Massen sichern könnte. Die Schlüssel zum Verständnis ihrer Wirkmächtigkeit liegen in der Nachkriegszeit. Am 9. Mai 1945 hatte Stalin Befehl Nr. 369 erlassen. Für zehn Uhr abends wurde ein feierlicher Salut angeordnet. Dreißig Geschützsalven sollten zu Ehren der siegreichen Roten Armee im Himmel über Moskau erschallen. Noch am selben Tag gab das Präsidium des Obersten Sowjets einen weiteren Erlass heraus. Darin verfügte es, dass der «Tag des Sieges» künftig als nationaler Feiertag gelten und die Bürger der Arbeit fernbleiben sollten.
Auch wenn die Feierlichkeiten des 9. Mai auf die Initiative Stalins zurückgehen mögen: Der sowjetische Diktator beanspruchte das Siegeslorbeer stets für sich allein. Die Erinnerung an den Triumph über Deutschland sollte ausschließlich mit seiner Person verknüpft sein. Zwar ließ Stalin die Öffentlichkeit am 24. Juni 1945 durch eine Militärparade auf dem Roten Platz zunächst am Erfolg teilhaben. Darüber hinaus war er jedoch nicht bereit, den Ruhm zu teilen. Zu groß war seine Missgunst gegenüber schillernden Kriegshelden wie Georgi Schukow, dessen Popularität dem Diktator missfiel – und zu gering fiel seine Wertschätzung für die 27 Mio. Leben aus, die der Sieg gekostet hatte.
Nach Jahren der Teilnahmslosigkeit leitete Leonid Breschnew schließlich eine radikale Kehrtwende ein. Am 26. April 1965 ließ er den 9. Mai in den Rang eines gesetzlichen Feiertages erheben. Und verfügte, dass künftig jedes Jahr eine Militärparade auf dem Roten Platz stattfinden sollte. Um die Diskrepanz zwischen dem symbolischen Triumph und den harten Realitäten des Alltags zu überbrücken, stiftete Breschnew 1967 zudem das «Grabmal des Unbekannten Soldaten». Bis heute geht von dieser an der Kremlmauer gelegenen Heimstätte der Gefallenen eine gravitätische Ausstrahlung aus. Die hier brennende Flamme symbolisiert einen epischen Heldenmut, der alle sozialen Antagonismen überstrahlt.
Der Sieg über Deutschland als politisches Instrument
Indem der russische Präsident diese Kraft für sich nutzt, trägt er einer simplen Erkenntnis Rechnung: Kein staatlicher Ritus eignet sich besser, um die mühsamen Schritte zum Erfolg in einen plötzlichen Sprung zu verwandeln, als die Feierlichkeiten des 9 Mai. Schon Breschnew war sich dessen bewusst gewesen. Und hatte mit ihrer Hilfe ein wahres Wunder vollbracht. Trotz der schrankenlosen Gewaltexzesse unter Stalin und den präzedenzlosen Verlusten im Krieg, war es ihm gelungen, den Bürgern erstmals ein positives Verhältnis zum Sowjetstaat zu vermitteln. Zu jenem Apparat inhumaner Repression, der sie jahrzehntelang mit schierem Terror überzogen hatte.
Die Entscheidung der Staatsführung, ihre ideologische Krise mithilfe der Erinnerung an einen Krieg zu beenden, dessen verheerendes Ausmaß sie selbst zu verantworten hatte, mag aus heutiger Sicht paradox erscheinen. Tatsächlich jedoch war sie ein genialer Schachzug. Vor dem Kampf gegen Deutschland hatte sich die UdSSR ausschließlich auf den Mythos der Oktoberrevolution berufen können. Obwohl Sergej Eisenstein den Triumph der Bolschewiki später bildgewaltig inszenierte, konnte diese Erzählung trotz ihrer Überzeichnung nie verfangen. Mit drastischen Folgen. Zwanzig Jahre nach Kriegsende interessierte sich kaum jemand mehr für die Ideologie der KPdSU. Der Nimbus Lenins und seiner Anhänger war längst zu einer zu ausgebrannten Hülle geworden.
Die sowjetische Führung nahm dies als Bedrohung wahr. Und erkor den Sieg über Deutschland zum Instrument ihrer Rettung. Hierzu fasste sie den Plan, einen zweiten Gründungsmythos zu schaffen, indem sie der Erinnerung an den «Großen Vaterländischen Krieg» ein neues Narrativ verlieh. Von jetzt an standen nicht mehr die Revolutionäre von 1917 im Zentrum. Stattdessen traten der heroische Kampf gegen den Nationalsozialismus und die Idee der Befreiung Europas von der Tyrannei Hitlers in den Vordergrund. Dass es beide in der von Breschnew intendierten Form nie gegeben hatte, war bedeutungslos. Entscheidend war einzig, dass die Bevölkerung die neue Interpretation der Vergangenheit als absolute Wahrheit akzeptierte.
Auch Wladimir Putin profitiert von diesem Effekt. Seine politische Mission hat er als Kreuzzug gegen den Nazismus ausgegeben. Und die Invasion der Ukraine zur Befreiung des «Brudervolkes» erklärt. Virtuos bespielt die staatliche Propaganda die Klaviatur jener Erinnerungen, die seit 1945 von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Diese Melodie findet Gehör, weil die von ihr transportieren Gefühle in den letzten Jahrzehnten gezielt verstärkt worden sind. Mehr als je zuvor verleihen sie den Russen die Gewissheit, auf der «gerechten» Seite zu stehen. Putin selbst hat dieser Empfindung Ausdruck verliehen, als er am 24. Februar 2022 erklärte: «Unsere Stärke liegt in der Wahrheit». Seine Anhänger mögen daran glauben. Und sie mögen sich an der aufschäumenden Stimmung kollektiver Hysterie berauschen. Trotzdem werden diese Worte einst als unheilverkündendes Diktum in die Geschichte eingehen, dessen Manifestation Tausenden Menschen den Tod gebracht hat.
Die Schändung nationaler Erinnerungskultur
Die Pläne des Kremls indes reichen weit über diese Zukunft hinaus. Dieser Tage die emotionale Unterstützung der Massen zu gewinnen ist nicht genug. Stattdessen muss es gelingen, die Entbehrungen kommender Generationen mit den sie auslösenden Taten zu versöhnen. Breschnew war ein solcher Friedenschluss gelungen. Durch die Schaffung einer kollektiven Erinnerung, die plötzlich auch die Opfer des Krieges zu Helden machte, wurden die von Stalin ausgehobenen Gräben erfolgreich zugeschüttet. Es bleibt fraglich, ob auch Wladimir Putin dieses Kunststück gelingen wird. Fest steht hingegen, dass ihm kaum eine Wahl bleibt. Ihm ist wohl bewusst, dass er im Namen des russischen Volkes schwere Verbrechen begangen hat. Und dass das Ansehen Russlands irreparablen Schaden daran nimmt. All das ist ihm gleichgültig. Solange er nur die Deutungshoheit behält.
Obwohl der 9. Mai nach dem Kollaps der UdSSR in Russland erst seit 1995 wieder zum offiziösen Zeremoniell gehört, ist sein Zauber ungebrochen. Wladimir Putin hat daran einen großen Anteil. Unter seiner Ägide wurde die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Sieg über Deutschland zu neuem Leben erweckt. Der geplagte Geist sowjetischer Nationalidentität lebt in den Herzen der Russen weiter. Im Interesse des Machterhalts soll diese Identität nun um ein neues Element erweitert werden. Dass es sich dabei um einen genozidalen Angriffskrieg mit Tausenden Todesopfern handelt, offenbart einmal mehr die Verdorbenheit der russischen Führung. Die Schändung der nationalen Erinnerungskultur ist womöglich das letzte Tabu, dass das Regime bislang noch nicht gebrochen hatte. Mit Gewissheit jedoch ist sie der unumstößliche Beweis für die Geringschätzung, die Wladimir Putin für sein Volk empfindet.
Die Ursprünge des russischen Krieges gegen die Ukraine liegen im Donbas. Möglicherweise gilt das auch für sein Ende. Sollte es Moskau nicht gelingen, die Region zu unterwerfen und ihre Verteidiger in einer Entscheidungsschlacht zu vernichten, wird eine existenzielle Krise des Regimes unausweichlich. Das Zeremoniell des 9. Mai würde dann wieder zu dem, was Stalin immer in ihm gesehen hatte: eine Bedrohung absolutistischer Macht. Obwohl gegenwärtig niemand wissen kann, in welche Richtung sich der Krieg in den kommenden Wochen entwickeln wird, steht doch fest: Wladimir Putin hat erneut alles auf eine Karte gesetzt. Diese Erkenntnis wirft bedrohliche Schatten auf die Zukunft voraus.