Seit der Konflikt um Berg-Karabach neu entflammt ist, wächst die Sorge vor einem Krieg im Kaukasus. Wie schon in der Ukraine und Belarus kommt Russland erneut eine Schlüsselrolle zu. Welche Zusammenhänge dabei eine Rolle spielen, wie die Interessen der involvierten Akteure aussehen, und mit welchen Mitteln Moskau einen Flächenbrand verhindern kann, zeigt folgende Analyse.
Nach Jahren ergebnisloser Verhandlungen im Rahmen der Minsker OSZE-Gruppe hat Baku am 27. September 2020 eine definitive Antwort für die Frage nach dem Status von Berg-Karabach formuliert. Demnach soll die armenische Exklave, die sich 1991 von der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan abgespalten hatte, nun militärisch zur Aufgabe gezwungen werden. Offenbar ist Baku entschlossen, ein ideologisches Ziel in politische Realität umsetzen: die Vertreibung der Armenier von seinem Staatsgebiet. Mehr noch als zuvor hat der Konflikt das Potential, die gesamte Region in Brand zu setzen. Neben Armenien, Aserbaidschan und Russland ist nämlich auch die Türkei beteiligt.
Die historischen Hintergründe
Bevor die aktuelle Krise eingehend analysiert wird, ist es nötig, sich ihren Ursprung ins Gedächtnis zu rufen. Im 19. Jahrhundert hatte die zarische Regierung zahlreiche Armenier in Berg-Karabach angesiedelt, um mit ihrer Hilfe einen sicheren Brückenkopf im muslimisch geprägten Südkaukasus zu errichten. Obwohl diese Politik von der schiitischen Bevölkerung Aserbaidschans abgelehnt wurde, gelang es der zarischen Obrigkeit, daraus resultierende Spannungen zu kompensieren. Seine Funktion als Konfliktregulator büßte der Zentralstaat erst 1917 ein, als Russland durch die zweite revolutionäre Staatskrise kollabierte.
Nachdem die Bolschewiki die Macht übernommen hatten, traten sie ein schwieriges Erbe an. Zwar wurde Berg-Karabach überwiegend von Armeniern bewohnt, in administrativer Hinsicht war es jedoch eng mit der östlichen Tiefebene verbunden. Dies erklärt, warum die politischen Eliten Aserbaidschans Berg-Karabach als Teil ihrer Einflusssphäre betrachteten. Es ist wichtig zu verstehen, dass der heutige Konflikt auf einem Antagonismus basiert, der hier erstmals in aller Klarheit aufschien: dem Streben der Armenier nach Selbstbestimmung und dem Anspruch der Aseris auf die Integrität ihres Staates.
Da beide Parteien zwischen 1918 und 1920 erbittert um die Region kämpften, hatten die Bolschewiki gute Gründe, den Konflikt zu entschärfen. Hierzu beabsichtigten sie, Berg-Karabach der im Dezember 1920 geschaffenen Sowjetrepublik Armenien zuzuschlagen; einen entsprechenden Beschluss hatte das kaukasische Büro des Zentralkomitees der KPdSU am 4. Juli 1921 gefällt. Vier Wochen später – wohl unter dem Protest aserbaidschanischer Kommunisten – entschied man jedoch, dass Berg-Karabach zur aserbaidschanischen SSR gehören würde. Da die Bolschewiki wohl wussten, dass sie damit lediglich einen faulen Kompromiss geschlossen und die Linien künftiger Konflikte vorgezeichnet hatten, verliehen sie Berg-Karabach am 7. Juli 1923 den Status eines Autonomen Gebiets, das eine Fläche von 4.161 km² umfasste.
Armenische Sezessionsbestrebungen
Der armenische Einfluss in Berg-Karabach war schon damals enorm. Als sein Verwaltungszentrum 1923 zu Ehren des Revolutionärs Stepan Schaumjan in „Stepanakert“ umbenannt wurde, wollte man den ethnischen Verhältnissen Rechnung tragen, die der erste sowjetische Zensus von 1926 mit großer Genauigkeit abbildete. Demnach lebten 111.250 Armenier in Berg-Karabach, was 89 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Ihnen standen damals lediglich 12.592 Aseris gegenüber. Es ist wichtig festzuhalten, dass den armenischen Eliten der bestehende Status politischer Autonomie selbst unter diesen für sie günstigen Bedingungen nicht ausreichte, weshalb sie in der Folgezeit mehrfach versuchten, Berg-Karabach vollständig von Baku zu lösen. Hierzu traten sie insgesamt fünfmal an das ZK der KPdSU heran, um es der armenischen SSR einverleiben zu lassen: nämlich in den Jahren 1930, 1945, 1965, 1967 und 1977.
Dass die Appellation zentraler sowjetischer Organe erfolglos blieb, war darin begründet, dass es sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan zahlreiche Gebiete gab, die von beiden Volksgruppen bewohnt wurden. Berg-Karabach in die armenische SSR zu inkorporieren, hätte folglich bedeutet, dasselbe auch mit anderen Regionen zu tun. Für solche Modifizierungen hatte der Zentralstaat, dessen Interesse in den 1930er Jahren primär in der Festigung seiner eigenen Macht bestand, daher kaum etwas übrig.
Die genannten Initiativen sind insbesondere nach 1945 als Reaktion auf einen demographischen Wandel in Berg-Karabach zu verstehen, der sich allmählich zugunsten der Aseris auszuwirken begann. So zeigte die Volkszählung von 1979, dass der armenische Bevölkerungsanteil auf 75,9 Prozent gesunken war, während der aserbaidschanische nun nicht mehr 10, sondern 23 Prozent betrug. Obwohl die politische und kulturelle Hegemonie der Armenier dadurch nicht in nennenswerter Weise gefährdet war, warfen sie Baku nun eine feindselige Nationalitätenpolitik sowie soziale und wirtschaftliche Diskriminierung vor. Unter diesen Vorzeichen nahmen die Spannungen zwischen beiden Volksgruppen weiter zu, die nach wie vor nicht nur in Berg-Karabach, sondern auch in Armenien und Aserbaidschan zusammenlebten. Im Februar 1988 kam es in der Schwarzmeerstadt Sumqayıt zu einem Pogrom an der armenischen Gemeinde, die daraufhin vollständig vertrieben wurde. Die sowjetische Generalstaatsanwaltschaft stellte später fest, dass in diesem Zusammenhang wenigsten 26 Menschen getötet worden waren. Besonders schwer wog indes der Verdacht, die Aktion sei im Vorfeld geplant gewesen.
Berg-Karabach braucht Armenien, das ohne Russland nicht überleben kann
Nachdem sich alte Ressentiments, die unverändert fortwirkten, in der Folgezeit immer häufiger in gewalttätigen Zusammenstößen entladen hatten, erfolgte am 2. September 1991 die Konstitution der Republik Arzach, die nicht nur das gesamte Gebiet von Berg-Karabach, sondern auch uneingeschränkte Souveränität für sich beanspruchte. Der nun beginnende Krieg, den die armenische Seite 1994 gewann, forderte 25.000 Todesopfer. Bis zu 1,1 Mio. Menschen wurden vertrieben, darunter 700.000 Aseris und 400.000 Armenier. Diese Diskrepanz kommt dadurch zustande, dass armenische Truppen nicht nur Berg-Karabach, sondern auch sieben weitere Bezirke Aserbaidschans besetzten. Bis heute fungieren diese Gebiete als Pufferzone und bedingen, dass 20 Prozent des aserbaidschanischen Staatsgebiets der Kontrolle Bakus entzogen sind. Gleichzeitig stellen sie eine direkte Landverbindung zu Armenien her.
Trotz seines Strebens, als souveräner Staat anerkannt zu werden, ist Arzach nachgerade von Jerewan abhängig und zudem auch in personeller Hinsicht eng mit ihm verwachsen. 20 Jahre lang war dort eine Clique an der Macht, deren Mitglieder aus Berg-Karabach stammten und sich im Krieg gegen Aserbaidschan als fähige Kommandeure einen Namen gemacht hatten. Im Jahr 1998 gelang ihr der Sturz von Präsident Ter-Petrosjan, dem mit Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan zwei Karabach-Armenier nachfolgten. Nach dem Ende seiner Amtszeit wurde Sargsjan 2018 zudem noch für fünf Tage Ministerpräsident, bis er sein Amt wegen landesweiter Proteste räumen musste. Am deutlichsten dürfte die von der Karabach-Connection geschaffene Bindung an Armenien jedoch darin zutage treten, dass Movses Hakobjan, der Generalstabschef von Arzach, im Juni 2015 nach Jerewan wechselte, während sein Vorgänger Levon Mnatsakanjnan, dessen Platz in Stepanakert einnahm.
Armenien wiederum ist ohne Russland nicht lebensfähig. Daraus ergibt sich eine Reihe militärischer und ökonomischer Implikationen, wodurch Moskau im Falle eines Krieges in Berg-Karabach kaum neutral bleiben könnte. In Gjumri befindet sich eine russische Militärbasis, die noch aus Zarenzeiten stammt und wenigstens 5.000 Soldaten fasst. Die Streitmacht hat den Auftrag, die Souveränität Armeniens zu schützen und die Südflanke Russlands zu sichern, das allerdings keine direkte Grenze mit Jerewan teilt. Diese Kooperation ist nicht nur symbolischer Natur, sondern wurde 2016 durch die Schaffung gemeinsamer Einheiten im Bereich der Luftabwehr vertieft. Wichtig ist, dass das Kommando über diese Truppen beim Militärbezirk Südrussland liegt. Sein Hauptquartier liegt in Rostov am Don und ist auch für die Schwarzmeerflotte sowie die föderalen Landstreitkräfte auf der Krim zuständig. Im Falle eines Angriffes obläge die Verteidigung von armenischem Territorium damit faktisch auch dem russischen Militär. Darüber hinaus werden die Grenzen zur Türkei (312 km) und zum Iran (43 km) von Einheiten des FSB überwacht. Im Gegenzug bezieht Jerewan vergünstige Waffen aus russischer Produktion und wird hierzu von Moskau mit Krediten versorgt.
Enge wirtschaftliche Verflechtungen
Insgesamt fungiert Russland als bedeutendster Kapitalgeber Jerewans und hat seit 1992 mehr als 4 Milliarden US-Dollar investiert. 2019 waren bis zu 1.300 russische Firmen in Armenien aktiv. Noch bedeutender ist das Folgende: Eines der größten Kreditinstitute des Landes, die ehemalige Armsberbank, wurde 2006 von der russischen VTB-Bank gekauft. Mit Investitionen in Höhe von 550 Mio. US-Dollar ist Gazprom an nahezu allen Strukturprojekten im Energiesektor beteiligt, während 80 Prozent der Energieträger von Moskau bereitgestellt werden und der russische Staatskonzern Rosatom 2014 das im Jahr 1980 errichtete Atomkraftwerk des Landes modernisiert hat. In das weitgehend marode Schienennetz von Armenien hat Moskau 2008 annähernd 230 Mio. US-Dollar gepumpt. Das bilaterale Handelsvolumen belief sich 2017 auf 1,75 Milliarden US-Dollar, und auch der armenische Telekommunikationssektor steht vollständig unter russischer Kontrolle. Im ersten Halbjahr 2018 war es bereits auf 925 Mio. US-Dollar gestiegen, nachdem 2016 noch immer 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze gelebt hatten.
Auf politischer Ebene sieht es ähnlich aus. Hier ist Jerewan Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und gehört der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) an. Diese Verflechtungen machen Armenien zum wichtigsten Verbündeten Moskaus im Südkaukasus, das Russland im frühen 19. Jahrhundert in Besitz genommen hatte, bis es ihm durch den Zerfall der UdSSR allmählich entglitt. Seit dem Krieg gegen Georgien (2008) und der Räumung seiner Militärbasis in Aserbaidschan (2012) kann der Kreml seine Macht in der Region nur noch auf Armenien stützen. Ein drohender Krieg in Berg-Karabach, der rasch auf das armenische Mutterland übergreifen könnte, muss aus russischer Sicht daher nur Nachteile bedeuten. Nicht zufällig hat Wladimir Putin unlängst erklärt, nicht in das gegenwärtige Kampfgeschehen eingreifen zu wollen – zu groß wäre das Risiko, das fragile Machtgefüge aus den Angeln zu heben.
Die Armenier wiederum betrachten Russland als ihre Garantiemacht. Im Oktober 2018 erklärten 78 Prozent der Teilnehmer einer Meinungsumfrage, Moskau als wichtigsten politischen Partner zu sehen, wohingegen 91 Prozent angaben, in Aserbaidschan die größte Bedrohung zu erkennen. Diese Sichtweise ist mithin das Resultat jener traumatisierenden Erfahrungen, die das armenische Volk im 19. und 20. Jahrhundert mit den „Türken“ gemacht hat. Die ihnen dabei widerfahrene Gewalt hatte sich bereits lange vor dem Genozid von 1915/16 wiederholt in Pogromen manifestiert und das älteste christliche Volk der Welt daran erinnert, in einer muslimischen Umgebung nicht sicher zu sein. Diese Zusammenhänge mögen im 21. Jahrhundert historischer Natur sein, ihre Bedeutung für das Bewusstsein der Armenier ist jedoch kaum zu überschätzen.
Baku agiert aus einer Position der Stärke
Im Gegensatz zu Jerewan steht Baku deutlich besser dar. Zwar leidet seine Wirtschaft seit einigen Jahren unter anhaltender Stagnation, was 2015 zu einer Abwertung des Manat von 34 Prozent führte und die Zentralbank zu seiner Entkoppelung vom US-Dollar bewog. Durch den Export von Gas und Erdöl ist die Wirtschaft Aserbaidschans aber um ein Vielfaches leistungsfähiger als die armenische, die kaum ohne russische Kredite auskommt. Dadurch ist Baku in der Lage, moderne Waffensysteme im Ausland einzukaufen. 2014 betrug das Rüstungsbudget 3,76 Milliarden US-Dollar; bis heute werden pro Jahr im Durchschnitt 2,2 Milliarden US-Dollar für Verteidigung bereitgestellt. Dieses Geschäft hat auch Moskau für sich entdeckt und Aserbaidschan zwischen 2012 und 2016 mit Waffen im Wert von 4 Milliarden US-Dollar beliefert.
Dieses paradox anmutende Doppelspiel des Kreml, das in Armenien für große Empörung gesorgt hat, hatte zur Folge, dass während des „Vier-Tage-Krieges“, der zwischen dem 1. und 5. April 2016 mehr als 90 Todesopfer forderte, auf beiden Seiten russische Waffensysteme zum Einsatz kamen. Die simultane Versorgung von Jerewan und Baku mit Kriegsgerät ist jedoch nur scheinbar widersprüchlich. In Wahrheit dient es dem Zweck, ein strategisches Gleichgewicht zu schaffen, wodurch eine Eskalation verhindert werden soll. Da Armenien zuletzt lediglich 625 Mio. US-Dollar für Rüstungsgüter aufwenden konnte, musste der zusätzliche Bedarf mit russischen Krediten bedient werden.
Die Rolle Moskaus als Garant des Status quo konnte seit dem Ende des Karabach-Krieges im Jahr 1994 funktionieren, weil Bakus die russische Autorität akzeptierte und sich seine Beziehungen zum Westen zuletzt erheblich abgekühlt hatten. Durch den „Azerbaijan Democracy Act of 2015“ setzte Washington Sanktionen in Kraft, die sich vor allem gegen aserbaidschanische Offizielle richteten. Diese Maßnahme zielte auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit und das repressive Vorgehen gegen die Presse im Land ab. Solche Kritik hat Baku von russischer Seite nicht zu befürchten. Eine strategische Allianz mit dem Kreml passte zudem auch insofern besser ins Bild, als man dort nicht den schädlichen Einfluss einer armenischen Lobby befürchtete, den man für die Entfremdung von den USA verantwortlich machte.
Die Türkei hebt das bisherige Stabilitätsgefüge aus den Angeln
Durch das Auftreten der Türkei, deren Ambitionen, sich als Großmacht zu etablieren, grenzenlos scheinen, gerät das von Russland erzeugte Stabilitätsgefüge nun erheblich ins Wanken. Als Turkvolk ist das Nato-Mitglied nicht nur in ethnischer Hinsicht eng mit Aserbaidschan verbunden, sondern 2010 auch ein Militärbündnis mit Baku eingegangen. Mit dem „Agreement on Strategic Partnership and Mutual Support“ haben sich beide Staaten im Falle eines Angriffes zu Beistand verpflichtet. Sollte Baku also zu der Einschätzung gelangen, von Armenien angegriffen zu werden, müsste Ankara militärisch eingreifen. Dass ein solches Szenario durchaus realistisch ist, hat sich bereits 2018 gezeigt, als es zu sporadischen Grenzgefechten zwischen Armenien und Aserbaidschan kam. Schon damals zeichnete sich ab, dass die Waffenlieferungen aus der Türkei, die auch Drohnen umfassen, das militärische Potenzial der aserbaidschanischen Armee erheblich gesteigert haben.
Die enorme Aufrüstung sowie die türkische Rückendeckung könnten erklären, warum Baku die als nationale Schmach empfundene Besetzung von Berg-Karabach jetzt gewaltsam beenden will. Gegen die aserbaidschanisch-türkische Allianz hat die armenische Seite keine Chance. Diese Unterlegenheit ist gravierend und wird nicht zuletzt in numerischer Hinsicht deutlich: Während in Armenien gerade einmal 3 Mio. Menschen leben und die international nicht anerkannte Republik Arzach nur 150.000 Einwohner zählt, beläuft sich die Bevölkerung von Aserbaidschan auf 10 Mio. Dass Berg-Karabach unter diesen Umständen noch nicht gefallen ist, liegt nur teilweise am Terrain, das Angriffe aus der östlichen Tiefebene erheblich erschwert.
Entscheidend ist vielmehr, dass die politischen Eliten auf beiden Seiten bislang vom Status quo profitiert haben. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan werden von exklusiven Cliquen regiert, die kein Interesse an demokratischen Prozessen, sondern ausschließlich am Machterhalt zeigen. Durch den permanenten Verweis auf eine äußere Bedrohung können sie ihre eigene Position stabilisieren. Nicht zufällig hatte Präsident Ter-Petrosjan 1998 zurücktreten müssen, weil er gegenüber Baku als zu nachgiebig galt. Und nicht von ungefähr schallt Präsident Aliev der frenetische Jubel der aserbaidschanischen Öffentlichkeit entgegen, wenn er in Richtung Armeniens erklärt, man verhandele nicht mit Terroristen. Folglich ist nicht die Lösung des Konflikts, sondern die Zementierung der politischen Verhältnisse das Ziel der Eliten.
Während Ankara eine Eskalation will, kann Moskau den Konflikt jetzt entschärfen
Wie es scheint, hat die türkische Politik, für die Erdogan die Losung „Eine Nation, zwei Staaten“ ausgegeben hat, Baku in seinem Entschluss bestärkt, eine militärische Entscheidung zu erzwingen. Seit dem 27. September 2020 mehren sich Hinweise darauf, dass Ankara direkt in den Konflikt involviert ist. Besonders schwer wiegen die Vorwürfe, wonach die Türkei bis zu 4000 Söldner aus Syrien ins Kampfgebiet geschleust hat. Tatsächlich waren in den letzten Tagen Aufnahmen zu sehen, die Araber zeigen, wie sie schwerbewaffnet auf Fahrzeugen sitzen und „Allahu Akbar“ skandieren. Im Zentrum Bakus, wo Tausende Menschen bis spät in die Nacht demonstrieren, wird längst unverhohlen gefordert, die Vernichtung der Armenier in ein politisches Programm zu übersetzen. Sollte sich der von Jerewan unterstellte Einsatz türkischer F-16-Jets bewahrheiten, wäre eine diplomatische Krise nicht nur in Nato-Kreisen unausweichlich.
Dass die Türkei eine Eskalation des Konflikts wünscht, entspricht ihrem politischen Kalkül, wonach die Karten bei einem Krieg zwischen Baku und Jerewan neu gemischt würden. Da Ankara in der Region bislang kaum Einfluss nehmen konnte und Aserbaidschan mit Blick auf den Kreml stets den nötigen Sicherheitsabstand zu Erdogan wahrte, das 2015 nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets selbst Gefahr lief, in einen bewaffneten Konflikt mit Moskau abzugleiten, bietet sich nun eine gute Chance, das zu ändern. Demnach ist es im türkischen Interesse, einen massiven Bruch zu provozieren und sich dann zum edlen Retter der Einheit zu stilisieren.
Wie schon 1994 hat Russland auch jetzt die Möglichkeit, den Krieg in Berg-Karabach zu beenden, bevor er die gesamte Region in den Abgrund reist. Hierzu könnte es seine in Armenien stationierten Truppen aufstocken, um Baku und dessen türkischen Bundesgenossen abzuschrecken. Eine russische Militärintervention ließe sich leicht mit den Verpflichtungen im OVKS begründen, die bislang allerdings nur für armenisches Staatsgebiet gelten. Da Ankara und Baku weder den Mut noch die Mittel haben, sich auf einen Krieg mit der russischen Supermacht einzulassen, sollte ein Vorstoß Moskaus rasch Wirkung zeigen. In einem zweiten Schritt könnten russische Friedenstruppen in Berg-Karabach für Sicherheit sorgen. Beide Konfliktparteien sprechen Russisch und akzeptieren das Moskauer Primat. Langfristig müsste dann zielgerichtet auf eine diplomatische Lösung hingearbeitet werden. Dass die Minsk-Gruppe der OSZE, der alle involvierten Staaten, einschließlich der Türkei, angehören, dieser Aufgabe gewachsen ist, darf allerdings bezweifelt werden.
Armenien sieht sich in einem Überlebenskampf
Während sich die Gewaltspirale in Berg-Karabach immer schneller dreht, fordert Erdogan Armenien in schrillen Tönen zum Rückzug auf und kündigt an, Baku „mit allen Mitteln“ zu unterstützen. Diese Drohung ist nicht nur aus armenischer Sicht unerträglich; sie ist auch eine infame Verhöhnung jener Verantwortung, die der türkische Staat als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches aus seiner Geschichte ableiten sollte. Bis heute weigert sich Ankara vehement, den Genozid von 1915/16 anzuerkennen, bei dem bis zu 1,5 Mio. Armenier sowie die gesamte westarmenische Kultur vernichtet wurde. Um zu ermessen, was dies für die Nachfahren der Opfer bedeutet, reicht es sich vorzustellen, ein deutscher Bundeskanzler würde entsprechende Drohungen an Israel richten.
Dass Ankara die Grenze zu Armenien bis heute geschlossen hält, lässt zudem ein erhebliches Desinteresse an einer Versöhnung erkennen. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass 72 Prozent der Armenier 2018 erklärten, die Türkei für die größte Bedrohung der eigenen Sicherheit zu halten. Sollte Moskau jetzt nicht entschieden handeln und seine Verantwortung als Großmacht wahrnehmen, könnte sich diese Einschätzung womöglich schon bald bewahrheiten.
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