Die Proteste gegen den belarussischen Präsidenten Lukaschenko reißen nicht ab. Während die EU die Wahl Lukaschenkos nicht akzeptiert, hat sich dieser sich dieser selbst im Amt bestätigt. Dieser Beitrag soll die aktuellen Ereignisse in Belarus einordnen und zeigen, warum die Zukunft des Landes nicht ohne Einbeziehung Moskaus möglich ist.
Das Kalkül des offiziellen Minsk, die eigene Bevölkerung mit einer Wahlfälschung täuschen zu können, hat sich als ruinöse Fehleinschätzung erwiesen. Seit dem 13. August 2020 gehen täglich hunderttausende Bürger auf die Straße; längst ist der Widerstand gegen das Ancien Régime von einer politischen zu einer Schicksalsfrage geworden. Um zu verstehen, wie unter diesen Umständen ein erfolgreicher Systemwechsel gelingen kann, ist eine seriöse Analyse der realen Verhältnisse unabdingbar. Zu diesem Zweck werden die Verbindungen zu Russland im Folgenden auf drei Ebenen betrachtet: auf einer historischen, wirtschaftlichen und politischen.
Belarus als Teil Russlands
Die Geschichte belarussischer Eigenstaatlichkeit reicht kaum mehr als 100 Jahre zurück. Am 21. Februar 1918 erklärte ihre Nationalbewegung die Unabhängigkeit ihrer Heimat, die seit jeher zum Zarenreich gehört hatte, und rief am 25. März eine eigene Volksrepublik aus, die sog. »Belaruskaja Narodnaja Respublika« (BNR). Da das Deutsche Reich, dessen Truppen kurz zuvor in Minsk einmarschiert waren, den belarussischen Staat jedoch nicht anerkannten, war seine Existenz nur von kurzer Dauer: Als die Bolschewiki den am 3. März 1918 mit Berlin geschlossenen Vertrag von Brest-Litowsk im Dezember 1918 kündigten, wurde die vormalige Bindung an Russland nicht nur wiederhergestellt, sondern das Land bereits am 1. Januar 1919 in die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) umgewandelt.
Wenn die Bolschewiki Belarus schon wenige Wochen nach dem Einmarsch der Roten Armee sowjetisierten, dann taten sie dies, weil das Land aus russischer Perspektive seit jeher zum eigenen Staatsgebiet gehört hatte. Diese Sichtweise teilten sie mit den zarischen Machteliten, die Belarussen und Ukrainer bis zuletzt als »Kleinrussen« und damit als Zweig des russischen Volkes betrachtet hatten. Diese Optik erklärt, warum weder Lenin noch seine Nachfolger je die Schaffung eines unabhängigen belarussischen Staates, sondern stets die Abhängigkeit von Moskau im Sinn gehabt hatten.
Die Vorzeichen der alten Macht
Überhaupt darf die Tatsache, dass die Völker der UdSSR über eigene Republiken verfügten, nicht als Ausdruck politischer Souveränität verstanden werden. Stattdessen lag ihrer Existenz die Einsicht zugrunde, dass sich die sozialistische Ideologie am besten in die Provinz tragen ließ, wenn man sie in den regionalen Sprachen artikulierte. Damit war die Sowjetunion das einzige Großreich der Geschichte, das sich nach ethnisch Kriterien organisierte. Dieses Prinzip, das Stalin einst als die Losung „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ ausgab, bewirkte, dass nationale Ideen in den sowjetischen Teilrepubliken rasch eine weitaus gewichtigere Rolle spielten als der rigide ideologische Dogmatismus der Anfangsphase.
Diese Entwicklung erhellt, warum die KP-Funktionäre der Teilrepubliken nach 1991 problemlos als Regierungschefs der neuen Nationalstaaten Karriere machten. Da deren Transformation in marktwirtschaftliche Systeme unter den Vorzeichen der alten Macht begann, blieb die sowjetische Mentalität im Geist der neuen Eliten erhalten. Belarus ist nicht nur ein mustergültiges Beispiel für dieses System, sondern zeigt: Mit 26 Jahren hat es sein Verfallsdatum längst überschritten.
Anbiederung an Moskau
Das weiß auch Aleksander Lukaschenko, der gern das Image eines Mannes mit harter Hand pflegt und im August mit einem Sturmgewehr martialisch vor der Kamera posierte. Am 14. September 2020 flog er dann nach Russland, um sich dort mit Wladimir Putin zu treffen. Die als „Arbeitsbesuch“ deklarierte Reise offenbart einmal mehr, was in Europa womöglich noch nicht jeder verstanden hat, der an die baldige Verwirklichung der Idee glaubt, Belarus stehe eine Zukunft im Schoße der EU bevor: Trotz seiner Inszenierung als unbeugsamer Anführer, hat Lukaschenko es nie geschafft, Belarus aus der Abhängigkeit von Moskau lösen. Stattdessen folgte er schon früh einer politischen Linie, die sein Land de facto zu einer russischen Provinz werden ließ.
Belege dafür finden sich bereits in der Frühphase seiner ersten Amtszeit. So setzte Lukaschenko zwischen 1995 und 2003 eine konsequente Resowjetisierung ins Werk, obwohl es seit den späten 1980er Jahren zu einem nationalen Erwachen in Belarus gekommen war. Anstatt dieses zu unterstützen, hielt Lukaschenko am sowjetischen Erbe fest. Hierzu beschwor er die Familienbande mit Russland und schloss 1999 sogar einen Unionsvertrag mit Moskau. Damit verbunden war das Projekt einer gemeinsamen Verfassungs- und Regierungsbildung sowie einer Währungsunion. Als Boris Jelzin sich einmal persönlich bei Lukaschenko dafür bedankte, dass das Russische in Belarus als Amtssprache erhalten geblieben war, antwortete dieser: „Wofür danken Sie mir? Wollen Sie etwa sagen, die russische Sprache gehöre nur den Russen? Nein, sie ist auch unsere Sprache, weil wir in all den Jahren des gemeinsamen Zusammenlebens viel von unserer Seele in sie gesetzt haben.“
Die Geringschätzung nationaler Gefühle
Was hier aufscheint, ist nicht weniger als das rein funktionale Verhältnis, das Lukaschenko bis heute zu den nationalen Gefühlen seines Volkes pflegt. Solange er sich von ihnen keinen Nutzen versprach, hatte er nichts für sie übrig und unterdrückte sie sogar. Dies änderte sich erst 2003, als er die Schaffung einer belarussischen Staatsideologie forcierte. Dieser Kurswechsel ist als Reaktion auf das Erstarken der Belarussischen Volksfront (BNF) zu verstehen – einer oppositionellen Bewegung, deren Ideengeber die belarussische Nation als Teil des russischen Volkes auffassten und demnach für eine vollumfängliche Vereinigung mit Russland eintraten. Dass nicht er selbst, sondern andere Akteure dieser Forderung ihre Stimme verliehen, fasste Lukaschenko als Bedrohung auf. Zusätzlich verschärft wurde seine Sorge vor politischer Marginalisierung durch die Unterstützung Wladimir Putins durch das konservative Lager in Russland, dessen Vertreter Belarus als ihre westliche Provinz betrachteten. Um nicht zu einem Vasallen des Kremls degradiert zu werden, wagte Lukaschenko nun den Versuch, sich von Moskau zu emanzipieren, was 2011 in eine Nationalisierung mündete, die in dezidierter Abgrenzung zu den Zielen der BNF konzipiert war.
Diese Demarkation kam vor allem darin zum Vorschein, dass nun nicht mehr die Bruderschaft zu Russland, sondern die Erinnerung an eine eigenständige historische Tradition in den Fokus rückte, die sich auf das in Europa kaum bekannte Fürstentum Polozk sowie auf das Großfürstentum Litauen bezog. Durch die Einführung neuer Geschichtsbücher und einen staatlichen Purismus des Belarussischen konnte dieser Prozess zeitweise vertieft werden. Die dadurch erzielten Effekte waren zunächst durchaus vielversprechend: In den frühen 2000er Jahren begann sogar die katholische Kirche, das Belarussische als Liturgiesprache zu verwenden. Ferner förderte eine 2016 von der Brauerei »Lidskaje piwa« durchgeführte Analyse die Erkenntnis zutage, dass Werbung in belarussischer Sprache in der Bevölkerung positive Reaktionen hervorrief.
Eine Ironie des Schicksals
Im März 2018 handelte Lukaschenko plötzlich in einer Weise, die aus heutiger Sicht geradezu paradox erscheint. Demnach unterstützte er die Festivitäten zum hundertsten Jubiläum der BNR und ließ die Nationale Akademie der Wissenschaften sogar eine Konferenz ausrichten, die die Rolle der 1918 geschaffenen Volksrepublik für die Geschichte belarussischer Staatlichkeit zum Gegenstand hatte. Wie schon im Falle der russischen Sprache, die Lukaschenko gegenüber Jelzin hochgemut zur Ausdrucksform der Seele seines Volkes erklärt hatte, unterstützte er nun das Gedenken an einen Staat, dessen Anhänger er in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre als Kollaborateure hatte denunzieren lassen, was auch das Verbot ihrer weiß-roten Flagge miteinschloss. Die Ironie dieser Kehrwende ist durch die am 13. August 2020 einsetzenden Proteste nun auf ihre logische Spitze getrieben worden, weil sich die Demonstranten in ideeller Hinsicht auf das Erbe der BNR berufen.
So aussichtsreich solche taktischen Manöver aus Sicht Lukaschenkos auch gewesen sein mögen, gelang es ihm nicht, die enge Bindung an Russland zu lösen, die stattdessen durch eine stetig wachsende ökonomische Abhängigkeit vertieft wurde. Den daraus abgeleiteten Einfluss versucht Moskau bereits seit der Jahrtausendwende für sich zu nutzen, indem es im Jahr 2002 systematisch mit der Festigung seines wirtschaftlichen Primats in Belarus begann. Diesen in der Sprache wirtschaftlicher Zwänge formulierten Machtanspruch kann der Kreml problemlos mithilfe seiner Öl- und Gaslieferungen durchsetzen, weshalb sich beide Länder seit 2018 erneut in einem Interessenkonflikt befinden.
Moskau instrumentiert seine ökonomische Macht
Der daraus resultierende Disput begann, als Moskau im Januar 2019 das sog. »Steuermanöver« initiierte, welches vorsieht, die Kosten für russische Öllieferungen jedes Jahr ein Stück mehr den Weltpreisen anzupassen. Die belarussische Regierung wies eine solche Preiserhöhung kategorisch zurück. Zwar einigte man sich Ende 2019 auf eine jährliche Gesamtmenge von 24 Mio. Tonnen, jedoch wurde im Januar und Februar 2020 kein Rohstoff durch jene Pipeline geliefert, die den programmatischen Namen »Freundschaft« trägt; ferner musste Minsk im März 2020 insgesamt 420 US-Dollar pro Tonne aufbringen, obwohl es eigentlich einen Preis von 410 US-Dollar benötigt, der ohne die obligatorischen Lieferprämien zustande kommt und bereits bei einer Menge von 2 Mio. Tonnen einen monatlichen Erlös von 20 Mio. US-Dollar bedeutet.
Für Belarus sind vergünstigte russische Öllieferungen also von existenzieller Bedeutung: Nicht nur generiert der ölverarbeitende Sektor wenigstens 8,5 Prozent des BIP, sondern zeichnet der Export von Ölprodukten auch für 30 Prozent der Devisenerlöse verantwortlich. Die von Moskau forcierte Preiserhöhung muss demnach zwingend zu einer signifikanten Reduktion der Wettbewerbsvorteile der belarussischen Wirtschaft führen. Um die von Moskau betriebene politische Instrumentierung ökonomischer Macht für sich zu nutzen, ist Minsk 2014 den Vertrag über die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) eingegangen. Davon versprach es sich einen Zugang zum russischen Markt, vergünstigte Gaspreise sowie Privilegien im Handel mit russischem Rohöl.
Belarus am Tropf russischer Öllieferungen
Das »Steuermanöver« hat der belarussischen Führung jedoch schonungslos den illusorischen Charakter dieser Erwartungen vor Augen geführt. Der Ökonom Dmitrij Kruk bilanziert, dass die von Russland für 2020 vorgesehene Anhebung des Einkaufspreises von Rohöl auf 83 Prozent des Weltpreises verheerende Folgen für den belarussischen Ölsektor bedeutet: nämlich dass der Gewinn seiner Raffinerien faktisch verpuffen würde, woraus sich in der Handelsbilanz Einbußen von 250 Mio. US-Dollar ergäben.
Aber auch außerhalb des ölverarbeitenden Sektors ist die belarussische Wirtschaft mit akuten Problemen konfrontiert. In den letzten 10 Jahren ist das Wachstum des BIP kontinuierlich geschwunden. Hatte Belarus zwischen 2000 und 2006 noch Raten von bis zu 8 Prozent vorweisen können, sind diese infolge der durch die Devisenkrisen von 2010 und 2015 ausgelösten Rezession bis 2019 auf 0,7 Prozent geschrumpft. Ebenso hat sich das Niveau des tatsächlichen Wohlstands (BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität) signifikant verringert. Im Vergleich zu den Ländern Mitteleuropas und des Baltikums (MEB) ist es von 77 Prozent (2014) auf 64 Prozent (2019) gesunken, was eine Abwanderung von Fachkräften in die EU – insbesondere nach Polen – ausgelöst hat.
Das System »Lukaschenko« ist am Ende
Als noch problematischer erweist sich jedoch die geringe Produktivität der belarussischen Wirtschaft, die aus weitreichenden Wettbewerbsbeschränkungen sowie aus staatlichem Paternalismus resultiert. Längst hat sich gezeigt, dass sich diese Mängel auch nicht mithilfe der zwei Technologie- bzw. Industrieparks kompensieren lassen, woran auch China beteiligt ist. In dieser Situation sowie unter dem Eindruck russischer Pressionen stellt sich die belarussische Wirtschaft als äußerst vulnerabel dar. Nicht zufällig ließ die im April 2019 erfolgte Lieferung von »verunreinigtem« Erdöl umgehend negative Auswirkungen erkennen.
Bereits im März 2020 prognostizierte die Politologin Valerija Kostjugova, die angespannten Beziehungen zu Moskau würden sich durch die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und die russische Verfassungsänderung weiter verschärfen. Dieser Befund ist nicht nur korrekt, sondern fällt durch die aktuelle Staatskrise zusätzlich ins Gewicht. In entrückter Erhabenheit hat die belarussische Führung mit ihrer Wahlfälschung nun das Unvermeidliche vorweggenommen: Nach 26 Jahren hat das System »Lukaschenko« keine Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Gegenwart mehr zu bieten.
Die von den Sicherheitskräften gegen die eigene Bevölkerung entfesselte Verfolgung, die Lukaschenko gern als Sieg seines Staatsapparats verbuchen möchte, trägt nicht nur alle Zeichen einer Niederlage, sondern legt in Wahrheit schonungslos dessen Schwäche offen. Die in den staatlichen Medien zur Schau gestellte Inszenierung Lukaschenkos als legitimer Präsident sowie dessen bizarre Selbstbestätigung im Amt sind hingegen von der verzweifelten Hoffnung auf Machterhalt durchdrungen. Die darin aufscheinende Verweigerung der realen Gegebenheiten lässt starke Züge pseudoreligiösen Glaubens erkennen und dürfte mithin der Grund für die Aussage Lukaschenkos sein, das Ende seiner politischen Karriere werde nur über seine Leiche erfolgen.
Ohne Russland ist keine Stabilität möglich
Da ein »System Change« trotz der von Moskau zugesagten Unterstützung keineswegs ausgeschlossen ist, sind die europäischen Staatschefs auf Distanz zu Minsk gegangen. Angela Merkel hatte bereits im August erklärt, die EU werde das offizielle Wahlergebnis nicht anerkennen. Unbeantwortet bleibt indes die Frage, wie die Zukunft von Belarus aussehen könnte. Die bislang von Großbritannien, Kanada und den baltischen Staaten verhängten Sanktionen können daran nichts ändern. Aus diesem Grund wäre die EU gut beraten, bei der Konzeption ihrer Außenpolitik zur Abwechslung einmal rationalen Überlegungen Rechnung zu tragen. Dies impliziert auch, als unangenehm empfundene Fakten zu akzeptieren, wozu auch zählt, dass die aktuelle Staatskrise in erster Linie die Ablehnung der belarussischen Regierung ausdrückt, nicht aber als Ruf nach europäischer Integration gemeint ist. Die Belarussen haben bis heute faktisch nicht erkennen lassen, dass es ihr Wunsch wäre, Teil des vereinigten Europas zu sein.
Vor allem aber ist der zivilgesellschaftliche Widerstand nicht gegen Moskau gerichtet, womit er sich fundamental von jener Protestbewegung unterscheidet, die 2014 zum Sturz der ukrainischen Regierung unter Wiktor Janukowitsch geführt hat. Noch bedeutsamer ist, dass Belarus jahrhundertelang zu Russland gehört und sich bis heute nicht aus dessen Einflusssphäre gelöst hat. Daraus sowie aus dem wirtschaftlichen und politischen Gewicht, das Moskau vor Ort geltend macht, folgt eindeutig, dass die zukünftige Stabilität des Landes nur unter Einbindung Russlands gelingen kann.
Der Nationalstaat ist gut, wenn er Russland schadet
Der Glaube, nicht Moskau, sondern Berlin, Paris oder Brüssel wären in der Lage, einen tragbaren Entwurf für die Zukunft eines sowjetischen Nachfolgestaates mit slawischer Bevölkerung zu konzipieren, ist illusorisch und bereits im Falle der Ukraine an seine Grenzen gestoßen. Das muss freilich nicht bedeuten, dass es dort nicht politische Bestrebungen gäbe, die an einer Verankerung ihrer Länder in der westlichen Staatengemeinschaft interessiert wären, sondern bedeutet, dass der russische Einfluss in weiten Bevölkerungsteilen akzeptiert wird.
Im Hinblick auf das stark angespannte Verhältnis zu Moskau, das durch die in immer schrilleren Tönen erhobene Forderung zusätzlichen Schaden genommen hat, die geplante Inbetriebnahme der fast fertiggestellten Ostseepipeline »Nord Stream 2« abzusagen, erscheint Merkels Plan, sich wie Macron mit der ins litauische Exil geflohenen Swetlana Tichanowskaja zu treffen, als wenig förderlich. Solche Vorstöße wirken nicht nur ungeschickt, sondern sind vor allem als Ausdruck des Wunsches zu werten, dass sich in Belarus eine politische Kraft etabliert, die ihr Land aus dem russischen Machtbereich herauslöst. Dass die Opposition dieses Ziel aber gerade nicht anstrebt, sondern ihren Kampf gegen Lukaschenko eine nationalistische Färbung verleiht, müsste der EU eigentlich missfallen, vertritt sie doch nach Innen die Haltung, der Nationalstaat sei ein überkommenes Modell. Dass dieses Dogma wie schon im Falle der Ukraine, nun auch in Belarus plötzlich nicht mehr gültig ist, deutet darauf hin, dass zur Schwächung Russlands notfalls auch logische Brüche in der eigenen politischen Doktrin in Kauf genommen werden.
Die Belarussen unterstützen die Politik Moskaus
Diesen Kurs werden die Belarussen allerdings nicht mittragen. Im Gegensatz zu den Menschen in den östlichen EU-Staaten, empfinden sie die russische Außenpolitik keineswegs als Bedrohung ihrer Freiheit. Eine 2014 vom Institut IISEPS in Belarus durchgeführte Umfrage bestätigte dies: Sie ergab, dass 60 Prozent der Befragten die Annexion der Krim als »Rückkehr russischen Bodens« bzw. als »die Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit« ansahen. Ebenso viel Zuspruch erhielt die Meinung, der Einsatz ukrainischer Streitkräfte im Donbass sei ein »Verbrechen gegen das eigene Volk«. In einer CET-Umfrage von 2017 erklärten fast 40 Prozent, Russen als Landsleute anzusehen. Bei der Unterstützung Russlands handelt es sich zudem keineswegs um ein neuerliches Phänomen: Bereits im März 1991 hatten sich 82,7 Prozent der Belarussen für den Erhalt der UdSSR ausgesprochen; die 1995 erfolgte Wiedereinführung der sozialistischen Staatsflagge wurde gar von 75 Prozent der Belarussen begrüßt.
Da Belarus historisch eng mit Russland verbunden ist, wirtschaftlich von ihm abhängt, und sich die Belarussen seit dem Zerfall der UdSSR auch politisch mit ihrem östlichen Nachbarn konsolidiert haben, kann es sich die EU nicht leisten, auf eine Kooperation mit Moskau zu verzichten; daher sollten dem belarussischen Volk keine leeren Versprechungen gemacht werden, wie es 2014 in der Ukraine geschah. Dies bedeutet, klar zu signalisieren, dass eine Integration in die EU oder die NATO unter Rücksichtnahme auf die russischen Interessen nicht infrage kommt, zumal in den EU-Nettozahler-Staaten zudem ohne keine Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Belastungen besteht.
Die Russlandpolitik der EU schadet der belarussischen Opposition
Dass Moskau Lukaschenko sowohl einen Milliardenkredit als auch militärische Unterstützung zugesagt hat und zugleich scharf vor einer äußeren Einmischung warnt, deutet auf die hohe Relevanz hin, die man einem intakten belarussischen Staat zumisst. Dabei sind keineswegs nur politische, sondern vor allem wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend: Der störungsfreie Betrieb der belarussischen Transitpipelines, die Nordeuropa mit Erdöl versorgen, soll unbedingt gewährleistet bleiben. Wie wichtig dieses Geschäft für Moskau ist, zeigte sich zuletzt am 17. Februar 2020, als Lukaschenko drohte, Öl abzuzapfen. Bereits am Folgetag reiste Igor Setčin, der Chef von Rosneft, zu einem Krisengespräch nach Minsk. Angesichts dieser ökonomischen Zwänge bin ich überzeugt, dass Moskau keine Hemmungen hat, Lukaschenko fallenzulassen, wenn sich eine aussichtsreiche Alternative bietet.
Dass die belarussische Opposition mit ihrer gegenwärtigen Führung heute geringere Chancen hat, von Russland als solche akzeptiert zu werden, als es noch zu Beginn der Proteste der Fall war, liegt maßgeblich daran, dass die europäischen Staatschefs sie immer unverhohlener unterstützen. Angela Merkel hat derweil angekündigt, Swetlana Tichanowskaja am kommenden Dienstag in Berlin zu empfangen.
Diese Fraternisierung mag der Kanzlerin die Zustimmung weiter Bevölkerungsteile bescheren. Das ändert aber nichts daran, dass sie in Wahrheit das Gegenteil dessen bewirkt, was sich Merkel von ihr verspricht: nämlich die Schwächung der belarussischen Opposition. Dass es Lukaschenko durch sie leicht gemacht wird, die gegen ihn gerichteten Proteste als von Europa gesteuert darzustellen, ist dabei noch das kleinere Problem. Viel bedeutsamer ist, dass Merkels Schulterschluss mit Tichanowskaja bei Moskau die Sorge verfestigt, die Demonstranten könnten ihren Unmut künftig auch gegen Russland richten. Wie schon die Annexion der Krim gezeigt hat, ist Wladimir Putin kein Mann, der bei dem Streben, die Einflusssphäre seines Landes zu erhalten, Risiken eingeht. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben in aller Klarheit offengelegt, dass seine Entschlossenheit auch den Einsatz des Militärs bedeuten kann. Sollte die dauerhafte Präsenz russischer Truppen in Belarus also tatsächlich das Ergebnis europäischer Außenpolitik sein, dann wäre sie wieder einmal auf ganzer Linie gescheitert.
Alexander Lukaschenko indes hat solche Probleme nicht, sondern wusste schon immer sehr genau, was er nicht wollte. Am 12. September 2016 gab er dem Stellvertreter des Geschäftsführers der russischen Nachrichtenagentur Tass ein Interview, in dem er erklärte: „Belarus ist wie ein Kristallgefäß; ein fragiles Kristallgefäß, das ich seit zwei Jahrzehnten in meinen Händen trage und das ich Angst habe fallen zu lassen.“
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