Am Wochenende kam es im französischen Dijon zu heftigen Ausschreitungen. Clans mit tschetschenischem und nordafrikanischem Hintergrund gerieten aneinander. Auf Bildern wird beinahe der Eindruck eines Bürgerkrieges vermittelt. Tschetschenien-Experte Christian Osthold erklärt die Hintergründe. Drohen derartige Szenen auch in Deutschland?
Es waren nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände, die die französische Stadt Dijon am Wochenende erschütterten. Bilder und Videos von brennenden Autos und teils schwer bewaffneten, vermummten Personen kursieren seitdem in den sozialen Netzwerken. Personen mit Schlagstöcken, aber auch Sturmgewehren sind zu sehen. Was steckt dahinter?
Hintergrund für die Ausschreitungen ist ein Konflikt zwischen gewaltbereiten Tschetschenen und einer Bande aus Bewohnern mit nordafrikanischen Wurzeln in einer Vorstadt. Ausgelöst wurde dieser wohl durch einen 16 Jahre alten Tschetschenen. „Der Junge ist wohl zwischen die Fronten geraten, als balkanstämmige und nordafrikanische Gruppen ihre Drogengeschäfte abgewickelt haben“, sagt Christian Osthold, Experte für Tschetschenien und Islamismus im Gespräch mit FOCUS Online. Die nordafrikanische Gruppe habe den Jungen daraufhin krankenhausreif geschlagen.
„Man wollte die Täter zur Rechenschaft ziehen“
Die Reaktion auf die Tat folgt auf dem Fuße. Im Radiosender „France Bleu“ gab Eric Mathais, Staatsanwalt von Dijon an, es seien an drei aufeinanderfolgenden Tagen rund 140 Tschetschenen nach Aufrufen in den sozialen Netzwerken in die Stadt in der Region Burgund gekommen. Allein in der Nacht von Freitag auf Samstag sollen etwa 100 Personen eingetroffen sein. Ihr Motiv ist für Osthold klar: „Man wollte die vermeintlichen Täter zur Rechenschaft ziehen.“
Es kam zu heftigen Ausschreitungen. Mehrere Personen wurden Berichten der Nachrichtenagentur AFP zufolge teils schwer verletzt – darunter auch der Besitzer einer Pizzeria, der von Schüssen getroffen worden sein soll. Bis zum Montag soll es vier Festnahmen gegeben haben.
Experte zieht zwei Schlüsse aus Dijon-Vorfall
Für Tschetschenien-Experte Osthold ist der Fall aus zweierlei Hinsicht aufschlussreich. „Die Aktion zeigt, dass die Binnenkohäsion stark ausgeprägt ist“, sagt er. Heißt: Gewaltbereite Tschetschenen sind in der Lage, innerhalb kürzester Zeit über größere Entfernung in einer großen Gruppe zusammenzukommen und einzugreifen. Viele Tschetschenen sähen derartige Vorfälle als Angriffe auf das Kollektiv, die sofort beantwortet werden müssten, erklärt Osthold. Er habe „gar keinen Zweifel daran“, dass auch aus Deutschland Personen nach Dijon gereist sind.
Zudem beweise der Vorfall das „hohe Gewaltpotenzial“ innerhalb der Gruppierung, so der Experte. „Man wollte sich hier rächen. Der Vorfall wurde als Ehrverletzung angesehen, die gesühnt werden muss.“
Auch Deutschland kämpft mit kriminellen tschetschenischen Clans
Auch in Deutschland sind die Behörden immer wieder mit gewaltbereiten tschetschenischen Clans konfrontiert. Eine Analyse der Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität des Bundeskriminalamtes (BKA) im vergangenen Jahr ergab, dass auch hierzulande kriminelle tschetschenische Gruppen eine überdurchschnittlich hohe Gewaltbereitschaft aufweisen.
Allerdings ist nur ein marginaler Teil der bis zu 50.000 Nordkaukasier, die in Deutschland leben, dieser gewaltbereiten Szene zuzuordnen. Das BKA sprach im vergangenen Jahr von einem harten Kern von gut 200 Personen, die man wegen ihrer Rolle in der organisierten Kriminalität im Auge behalte. „Daran hat sich nach meiner Kenntnis bisher nichts geändert“, sagt Experte Osthold.
Berlin als Hotspot für kriminelle Machenschaften
Als Hotspot für die kriminellen Machenschaften tschetschenischer Gruppen nennt er Berlin. Hier würden sich kriminelle Tschetschenen vermehrt in die organisierte Kriminalität, beispielsweise den Drogenhandel, einmischen und den „Platzhirschen“, etwa kurdisch-arabischen Großfamilien oder Rockergruppen Konkurrenz machen.
Dass dort Konflikte auf der Straße leicht eskalieren können, zeigt ein Fall aus dem Jahr 2016. Damals starb ein polizeibekannter Drogendealer mitten in Berlin-Charlottenburg durch eine Autobombe. Die Spur führte schnell in die kriminelle tschetschenische Szene. Vollständig aufgeklärt wurde der Fall jedoch nie.
Drohen Dijon-ähnliche Szenen auch in Deutschland?
Trotz der hohen Gewaltbereitschaft der kriminellen Tschetschenen sieht Experte Osthold „keinen Grund zu der Annahme“, dass in Deutschland ein ähnlicher Vorfall wie in Dijon möglich ist. „Dass es zu größeren Auseinandersetzungen kommen kann, haben wir in den letzten Jahren ja gesehen. Einen Fall wie in Dijon halte ich in Deutschland aber nicht für wahrscheinlich.“
Seine Annahme begründet er auch mit den Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland. „Bei den Vorfällen in Dijon habe ich vollautomatische Waffen gesehen. Sowas kommt eigentlich nur bei Terroranschlägen vor. In Deutschland ist es weitaus schwerer, an Kriegswaffen heranzukommen“, erklärt er.
Beim konkreten Fall aus Frankreich schickte das Innenministerium zudem erst nach drei Tagen Sondereinsatztruppen nach Dijon. Osthold sieht die deutsche Polizei in der Lage, auf derartige Extremsituationen schneller und zuverlässiger zu reagieren. „In Frankreich war es ja zunächst so, dass der Staat gar nicht eingreifen konnte und es nicht genug Polizei vor Ort gab. Das wäre in Deutschland sicherlich nicht der Fall.“