Nach der heutigen Anti-Terror-Razzia stehen erneut Tschetschenen unter Tatverdacht. Um die Bedeutung dieser Erkenntnis zu verstehen, ist es nötig, den Gesamtzusammenhang zu würdigen.
Wer die Genese tschetschenischer Kriminalität in Deutschland aufmerksam verfolgt hat, weiß, dass die heutige Polizeiaktion die jüngste Episode einer Historie darstellt, deren Kontinuität mehrere Jahre zurückreicht. Seit 2016 habe ich mehrfach davor gewarnt, ihre Gefahr zu unterschätzen und prognostizierte, sie würde bereits mittelfristig gravierende Auswirkungen haben.
Wenn den ca. 40.000 in Deutschland lebenden Tschetschenen – exakte Zahlen liegen den Behörden nicht vor – heute ein negativer Ruf vorauseilt, dann liegt das vor allem an der ungebrochenen Tatkraft einzelner krimineller Akteure, deren Bilanz ernüchternd ausfällt: Nicht nur gehen seit 2016 zahlreiche Fälle aus dem Bereich der Extremismuskriminalität auf ihr Konto, sondern haben sie sich zudem auch erfolgreich in der organisierten Kriminalität etabliert.
Tschetschenische Extremismuskriminalität
In diesem Zusammenhang ist etwa die Polizeiaktion vom 24. Oktober 2016 zu nennen, die sich gegen 14 Asylsuchende aus Tschetschenien richtete. Während sich der 28-jährige Hauptverdächtige dem IS in Syrien anschließen wollte, hatten seine Komplizen die Terrororganisation vor allem mit finanziellen Zuwendungen unterstützt.
Die Affinität tschetschenischer Islamisten für den bewaffneten Kampf ist den Sicherheitsbehörden wohl bekannt und hatte sich erstmals 2013 gezeigt, als der in Kiel lebende Aslanbek F. am 24. Januar im syrischen Bürgerkrieg ums Leben kam, wo er sich im Vorjahr einer Rebellengruppe angeschlossen hatte, um die von Präsident Assad geführte Zentralregierung zu stürzen.
Eine zunehmend nationale Ausrichtung
Die Tatsache, dass sich Tschetschenen in den letzten Jahren nicht nur aus Deutschland, sondern vor allem auch aus Österreich, dem IS anschlossen, hatten deutsche Sicherheitsbehörden zunächst als Beleg für eine globale Orientierung gewertet. Dass diese Einschätzung jedoch nicht zutraf, zeigte sich im August 2018, als der 31-jährige Magomed-Ali C. in Berlin verhaftet wurde, nachdem sich sein Plan zur Durchführung eines Sprengstoffanschlags konkretisiert hatte.
Zur selben Zeit wurde vor dem Hamburger Staatsschutzsenat ein 29-jähriger Tschetschene wegen der Mitgliedschaft beim IS zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Im Mai 2018 hatte die Pariser Polizei wiederum einen Tschetschenen erschossen, weil dieser Passanten mit einem Messer attackiert hatte. Während ein Opfer verstarb, erlitten vier weitere Personen schwere Verletzungen.
„Islamistische nordkaukasische Szene“
Jedoch auch im Windschatten solcher Einzelfälle sind tschetschenische Kriminelle wiederholt aufgefallen. Die Hotspots dieser Klientel, die man in Sicherheitskreisen der „islamistischen nordkaukasischen Szene“ zurechnet, liegen in Bremen, Berlin und Brandenburg. Zur Rolle der Tschetschenen für den militanten Islamismus stellten die Potsdamer Staatsschützer 2018 fest: „Bundesweit spielen die Tschetschenen in der islamistischen Szene eine untergeordnete Rolle. In Brandenburg hingegen stellen sie einen großen Teil des islamistischen Personenpotenzials dar, vor allem in der Kategorie der gewaltbereiten Islamisten.“
Dass eine der beiden Verhaftungen des heutigen Tages in Brandenburg erfolgte, ist demnach kein Zufall. Obwohl dort 2019 lediglich 6.000 Tschetschenen als Migranten lebten, sorgen sie trotz ihrer geringen Anzahl seit Jahren für Probleme und sind immer wieder durch Gewalt- und Extremismusdelikte aufgefallen. Dabei handelt es sich um keine neuerliche Erscheinung. Bereits 2017 stammten mehr als die Hälfte der 90 islamistischen Gefährder Brandenburgs aus dem Nordkaukasus.
Obwohl sich dieses Personenpotential prozentuell bis heute etwas verringert hat, ist es in absoluten Zahlen doch gewachsen. Dem aktuellen Bericht des brandenburgischen Verfassungsschutzes zufolge hatten 2018 insgesamt 70 der 180 islamistischen Extremisten „Bezüge zum Nordkaukasus“, was einem Anteil von knapp 39 Prozent entspricht. Daraus lässt sich gegenüber 2017 ein Wachstum von 55 Prozent ableiten. Weitaus beunruhigender dürfte jedoch die Erkenntnis sein, dass sämtliche dieser Akteure mit dem IS assoziiert sind.
Tschetschenen und die organisierte Kriminalität
Noch bedeutsamer als die skizzierten Aktivitäten aus dem Bereich des religiösen Extremismus dürfte jedoch die Rolle sein, die Tschetschenen mittlerweile in der organisierten Kriminalität spielen. Als vor einigen Jahren erste Berichte über tschetschenische Gruppen publik wurden, die mit großer Vehemenz verschiedene illegale Geschäftsfelder für sich beanspruchten, war mir klar, dass der Unterwelt deutscher Großstädte tiefreichende Umwälzungen bevorstanden.
Als das BKA im April 2019 sodann einen internen Bericht vorlegte, der explizit die Aktivitäten tschetschenischer Banden behandelte, wurde mein Befund schließlich bestätigt. Den Erkenntnissen der Ermittler zufolge ließ sich die tschetschenisch geprägte Kriminalität in Deutschland etwa 200 Schlüsselpersonen zurechnen, die bundesweit in Gruppen operierten und sich immer häufiger von den Platzhirschen emanzipierten.
Da der BKA-Bericht nicht publiziert wurde, konnte man die Ausprägungen tschetschenischer Kriminalität zunächst nur erahnen. Dies änderte sich im September 2019, als das aktuelle Bundeslagebild zur organisierten Kriminalität erschien, das der Öffentlichkeit erstmals harte Fakten offenbarte. Darin heißt es:
„Im Jahr 2018 wurden acht Verfahren gegen tschetschenisch dominierte OK-Gruppierungen, sieben der Verfahren u. a. wegen Verdachts von Gewalt- bzw. Erpressungsdelikten geführt. Tschetschenische kriminelle Gruppierungen weisen eine überdurchschnittlich hohe Eskalations- und Gewaltbereitschaft auf und traten in drei Verfahren in Verbindung mit versuchten sowie vollendeten Tötungsdelikten in Erscheinung.“
„Russisch-eurasische Kriminalität“
Obwohl tschetschenische Akteure zur Kategorie der „russisch-eurasischen organisierten Kriminalität“ gehören, in der ausschließlich Banden aus dem postsowjetisch Raum geführt werden, halte ich sie für die mit Abstand wirkmächtigste Fraktion, deren Protagonisten man mit rechtstaatlichen Methoden nur bedingt wird beikommen können.
Dies lässt sich mit der Gewissheit sagen, dass solche Gruppen ihre eigene Heimat bereits zwischen 1996 und 1999 stark verheerten. Damals waren sie maßgeblich für das fulminante Scheitern des Projekts tschetschenischer Eigenstaatlichkeit verantwortlich. Anstatt eine schrittweise Emanzipation vom russländischen Zentralstaat zuzulassen, stürzten kriminelle Banden das Land in den Abgrund der Anarchie.
Deutschland am Scheideweg
Deshalb bin ich überzeugt, dass die Entwicklung in Deutschland an einem Scheideweg angekommen ist. Mehr denn je kommt es nun darauf an, eine wirksame Gesamtstrategie zur Eindämmung sowohl der organisierten als auch der extremistisch geprägten Kriminalität tschetschenischer Prägung zu konzipieren. Dafür ist es zwingend notwendig, das Übel an der Wurzel zu packen, weil die Behandlung akuter Symptome allein auf Dauer nicht ausreichend sein wird.
Dass es bisher noch nicht zu Anschlägen gekommen ist, ist einzig das Verdienst deutscher Sicherheitsbehörden. Damit diese nicht an ihre Belastungsgrenzen stoßen, muss die Politik endlich engere Rahmen setzen. Dazu gehört etwa, mehr für die Aufklärung der Identitäten von Personen aus der Russischen Föderation zu tun, die in Deutschland Asyl beantragen, idealerweise in Zusammenarbeit mit Moskau.
Großer Handlungsbedarf
Gleichzeitig müssen Migranten, denen das deutsche Asylrecht keinen Flüchtlingsstatus gewährt, rasch ausgewiesen werden. Wer davon im Einzelnen betroffen ist, muss allerdings genau festgestellt werden. Leider hat es in der Vergangenheit immer wieder Fälle gegeben, in denen Tschetschenen abgeschoben worden sind, die in ihrer Heimat politisch verfolgt wurden und sich in Deutschland nichts hatten zu Schulden kommen lassen, während Kriminelle paradoxerweise unbehelligt blieben.
Wie groß der Handlungsbedarf in diesem Bereich ist, zeigt vor allem folgender Sachverhalt: Obwohl die Schutzquote tschetschenischer Asylbewerber in Brandenburg 2018 lediglich 7 Prozent betrug, ist nur ein geringer Anteil in die Heimat zurückgekehrt. Diese Situation ist inakzeptabel und bedarf dringend der Korrektur.
Nur die Politik kann Lösung finden
Dies setzt allerdings eine nüchterne Analyse voraus. Die Behauptung, alle Tschetschenen in Deutschland seien Verbrecher, ist nicht nur intellektuell unredlich, sondern genauso falsch, wie die Ansicht, alle von ihnen wären Flüchtlinge. Deswegen ist jetzt vor allem die Politik gefragt, deren Verantwortung es obliegt, migrantisch geprägte Kriminalität mit allen Mitteln des Rechtsstaates zu bekämpfen. Sollte ihr dies nicht gelingen, dürften Deutschland unruhige Zeiten bevorstehen.
Nachtrag (22.01.2020)
Eine Woche nach der Polizeiaktion sind die Tatverdächtigen wieder auf freiem Fuß, nachdem die Beweislast offenbar nicht für Haftbefehle ausgereicht hatte. Gleichwohl weist das LKA Berlin den Vorwurf des unverhältnismäßigen Handelns zurück und erklärt, gegenwärtig die sichergestellten Datenträger auszuwerten.