Als ich im Sommer 2015 nach Tschetschenien kam, hatte ich keine Vorstellung davon, was mich dort erwarten würde. Die Entscheidung, allein in die berüchtigte Kaukasusrepublik zu reisen, wo noch wenige Jahre zuvor ein grausamer Krieg getobt hatte, erscheint mir im Rückblick als großes Wagnis. Im Gegensatz zu Gästen mit offiziellem Status wie Politikern oder Journalisten, die mit ihrer Entourage stets in Grozny Quartier beziehen, wollte ich das umkämpfte Land, das in Russland seit Jahrhunderten als Wellenbrecher imperialer Macht gilt, von innen erleben.
Dies bedeutete für mich, das Leben mit den Augen der Bevölkerung zu sehen, ihr Verhältnis zu Russland zu begreifen, sowie ein tieferes Verständnis davon zu entwickeln, welche Rolle der Islam dabei spielte. Eines vorweg: Sich theoretisches Wissen über ein Land und dessen Bewohner anzueignen, mag richtig und gut sein. Gleichwohl basieren die eigenen Urteile stets darauf, was andere bereits geschrieben haben. Im Gegensatz dazu bietet die Möglichkeit, sich selber in eine Umwelt hineinzuleben, einen ungleich direkteren Zugang. Ich hatte diese Chance, und ich habe sie genutzt.
Ein Schritt ins Ungewisse
Dass meine Reise nach Tschetschenien nicht weniger als einen Schritt ins Ungewisse bedeutete, ist eine Tatsache, hatte ich meinen Gastgeber bis zum Tag meiner Ankunft doch noch nie getroffen. Vielmehr hatte ich ein Jahr lang über das Internet mit ihm in Kontakt gestanden – einem Tschetschenen, der großes Interesse an meinen Forschungen zeigte und sich in zahlreichen Gesprächen als kundiger Fachmann seiner Heimat erwies.
Nach mehreren Monaten stellte er mir schließlich anheim, ihn zu besuchen. Während meiner Zeit in Tschetschenien war er meine einzige Bezugsperson und stand mir durchgehend mit Rat und Tat zur Seite. Dadurch verschaffte er mir einen Zugang zu seiner Heimat, der Fremden gewöhnlich verwehrt bleibt. Bis zuletzt hatten mir meine russischen Freunde und Kollegen davon abgeraten, das Risiko einer Reise nach Tschetschenien einzugehen. Das Land sei zu gefährlich, seine politischen Verhältnisse zu instabil, und angesichts der akuten Terrorgefahr könne niemand für meine Sicherheit garantieren.
Reisewarnung für Tschetschenien
Dass diese Bedenken keineswegs unbegründet waren, bestätigte auch eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, deren Wortlaut sich bis heute nicht verändert hat: „Bei Reisen in den Föderalbezirk Nordkaukasus sowie angrenzende Regionen wird auf die erhöhte Sicherheitsgefährdung hingewiesen. Insbesondere von nicht zwingend erforderlichen Reisen nach Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan und Kabardino-Balkarien wird dringend abgeraten. In den oben genannten Regionen besteht aufgrund von Anschlägen, bewaffneten Auseinandersetzungen und Entführungsfällen ein hohes Sicherheitsrisiko.“
Ich muss zugeben, dass es einige Überwindung kostete, diese Warnungen zu ignorieren. Dies änderte jedoch nichts daran, dass ich dabei war, eine Dissertation über Tschetschenien zu schreiben. Und da man als Historiker nicht umhinkommt, vor Ort zu forschen, konnte mein Vorhaben durchaus als „dringend erforderlich“ gelten.
Ankunft in Tschetschenien
Wenige Wochen später war es schließlich soweit. An einem heißen Sommertag landete ich auf dem einzigen Flughafen Tschetscheniens, der sich im nördlichen Umland von Grozny befindet und aus mehreren Rollbahnen sowie einem kleinen Hauptgebäude besteht. Als das Flugzeug zum Stehen kam, hielt ich noch einmal inne und vergegenwärtigte mir, dass es nun kein Zurück mehr gab. Allen Warnungen zum Trotz, würde ich mich für unbestimmte Zeit in die Obhut eines Fremden begeben. Das Unbehagen, das ich bei diesem Gedanken verspürte, sollte jedoch bereits wenige Augenblicke später verfliegen, als mich mein Gastgeber mit einer herzlichen Umarmung willkommen hieß.
Keine Russen in Tschetschenien
Das Erste, was man sieht, wenn man aus dem Flughafen ins Freie heraustritt, ist eine kleine Moschee mit vier Minaretten und einer goldenen Kuppel, die sich direkt gegenüber dem Haupteingang befindet. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass sie für gläubige Muslime gedacht ist, die nach vor bzw. nach einer Reise das Gebet verrichten möchten.
Obwohl Tschetschenien ein Föderationssubjekt der Russischen Föderation ist, hatte ich sofort das Gefühl, Russland verlassen zu haben. Gemäß dem Zensus von 2010 lag der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung Tschetscheniens bei 1,9 Prozent, womit er sich seit 2002 um 60 Prozent verringert hatte. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund dessen konnte ich die enge Bindung, um die sich die tschetschenische Regierung zu Moskau bemüht, sofort an einem großen Bild von Wladimir Putin erkennen, das am Eingangsbereich des Flughafens neben dem des ehemaligen Präsidenten Achmat Kadyrov angebracht ist.
Fahrt durch Grozny
Auf der Heimfahrt mit dem Taxi fuhren wir durch Grozny. Dabei fiel mir sofort auf, dass sich die Stadt seit dem Ende des Krieges merklich verändert hatte. Nichts deutete darauf hin, dass ich mich gerade im Herzen eines ehemaligen Kriegsgebiets befand. Angesichts ihres überaus gepflegten Erscheinungsbildes wirkte die Vorstellung, dass föderale Streitkräfte die Stadt im Januar 1995 auf Befehl Präsident Jelzins in Schutt und Asche gelegt hatten, geradezu surreal. Für einen Moment lang schien mir gar, als hätte es niemals Krieg in Tschetschenien gegeben. Dieser Gedanke war natürlich absurd. Vielmehr sollte ich später noch bei verschiedener Gelegenheit erfahren, dass die Erinnerung an den Schrecken der Gewalt, wie auch das Bewusstsein für die eigene Geschichte, bei den Tschetschenen noch immer äußerst lebendig ist.
Unser Weg führte uns in das Dorf „Starye Atagi“, das seit vielen Generationen die Heimstätte der Familie meines Gastgebers ist. Endlich hatte ich die Möglichkeit, das Leben der einheimischen Bevölkerung aus nächster Nähe zu erleben und mir selbst ein Bild von Politik, Islam und Tradition zu machen. Da der Ort etwa 20 Kilometer südlich von Grozny, am linken Ufer des Argun, liegt, befindet er sich bereits in Sichtweite des Vorgebirges. Aus Grozny ist Starye Atagi, dessen tschetschenischer Name die Bedeutung „Flussebene“ hat, nur über eine zweispurige Trasse erreichbar und wickelt damit einen großen Teil des Verkehrs nach Süden ab.
Das Leben im Dorf
Das Dorf, in dem heute etwa 10.000 Menschen leben, trug zwischen 1944 und 1957 den russischen Namen „Predgornoje“. Damals befand sich das gesamte Volk der Tschetschenen in der zentralasiatischen Verbannung, wohin Stalin es wegen vermeintlicher Kollaboration mit dem Deutschen Reich hatte deportieren lassen – ein haltloser Vorwand, der in Wahrheit dem Zweck diente, den Widerstand der Tschetschenen gegen den Stalinismus zu brechen. Im Gegensatz zu russischen Dörfern, die überwiegend aus Holzhütten bestehen und deswegen stets etwas armselig erscheinen, findet man in tschetschenischen Siedlungen überwiegend Steinbauten. Obwohl Tschetschenien durch zwei Kriege gegen Moskau schwer verwüstet wurde, lag die Arbeitslosenquote zum 1. Januar 2016 bei 12,1 Prozent. Offiziellen Angaben zufolge hatte der Anteil der Erwerbslosen 2007 noch 76,3 Prozent betragen.
Die dörflichen Lebensverhältnisse
Während meiner Zeit im Dorf stellte ich fest, dass dessen Bewohner keineswegs entbehrlicher lebten als in der russischen Provinz. Im Gegenteil besaß jede Familie ein eigenes Haus sowie ein Stück Land. Meinen Gastgebern stand zudem noch ein Obstgarten zur Verfügung, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand und mit einem Brunnen ausgestattet war.
Da man in Tschetschenien großen Wert auf Privatsphäre legt und es als unsittlich gilt, von Fremden gesehen zu werden, ist jedes Grundstück durch eine Mauer von der Außenwelt abgeschirmt. Trotzdem war meine Anwesenheit bereits nach kurzer Zeit fast allen Nachbarn bekannt. Hinter einem Haus befindet sich zudem stets ein Garten, während der Bereich vor dem Wohngebäude als Hof angelegt ist, auf den man von der Straße durch ein schweres Eisentor gelangt.
Tschetschenische Sitten
Bei meiner Ankunft wurde ich zunächst vom Vater meines Gastgebers willkommen geheißen. Dies war kein Zufall. Bis heute wird das soziale Leben in Tschetschenien von einem Verhaltenskodex normiert, der unbedingte Verbindlichkeit fordert und auf der Achtung vor dem Älteren basiert. Demnach reichen sich Männer verschiedenen Alters zum Gruß niemals die Hand, sondern berühren einander lediglich am Arm, wobei der Oberkörper ein wenig in Richtung des anderen geneigt wird – nur unter Gleichaltrigen erfolgt ein Handschlag.
Frauen und Mädchen werden hingegen nicht in dieser Weise begrüßt, da physischer Kontakt zwischen ihnen und fremden Männern einem Tabu unterliegt. Die Unantastbarkeit des weiblichen Geschlechts, die darin zum Ausdruck kommt, ist übrigens einer der wenigen Belege dafür, dass islamische Normen und traditionelles Brauchtum, die einander in vielen Bereichen widersprechen, zuweilen auch kompatibel sein können.
Tschetschenien – Russlands inneres Ausland
Ein paar Tage später lud mich mein Gastgeber zu einem Spaziergang durch das Dorf ein. Auf unserem Weg verstärkte sich jener Eindruck, den ich bereits am Flughafen gewonnen hatte: Ferner stellte ich fest, dass in Tschetschenien längst nicht alle Menschen Russisch verstanden. Der ältere Bruder meines Gastgebers schien sogar eine regelrechte Abneigung gegenüber der Sprache zu haben. Obwohl das Russische im Nordkaukasus als lingua franca gilt, wird man es im Gegensatz zu Frauen niemals tschetschenische Männer miteinander sprechen hören, weil dies als unangemessen gilt.
Die Feststellung, dass Tschetschenien nur auf dem Papier zu Russland gehört, war eine der ersten Erkenntnisse, die ich vor Ort gewinnen konnte. In zahlreichen Unterhaltungen mit Einheimischen, die mir ausnahmslos freundlich und aufgeschlossen gegenübertraten, erfuhr ich stets dasselbe: Die Bindung an Russland wurde als zwanghaft empfunden, und die von der Regierung inszenierte Freundschaft, die die Tschetschenen vermeintlich mit Russland verbindet, als krude Absurdität zurückgewiesen.
Kein pauschaler Russen-Hass
Um es klar zu sagen: Die Menschen, mit denen ich in Tschetschenien vertraulich über Politik sprach, wussten sehr wohl zwischen den Russen und dem russländischen Staat zu unterscheiden. Pauschalen Hass gegenüber der russischen Volksgruppe konnte ich nirgends erkennen, wohl aber die entschiedene Ablehnung der von Moskau etablierten Ordnung, die man unmissverständlich als „Organ der Fremdherrschaft“ beschrieb.
Was damit gemeint war, wurde mir klar, als wir wieder einmal durch das Dorf gingen. Dabei kamen wir regelmäßig an Gebäuden vorbei, die noch Spuren des Krieges zeigten. Insofern spiegelte das Dorf eine völlig andere Realität wieder als Grozny. Auch erfuhr ich, dass Starye Atagi mehrfach der Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen dem russischen Militär und den Tschetschenen gewesen war.
Die Spuren des Krieges
Als Kind war mein Gastgeber einmal zum Zeugen eines Angriffs geworden, der sich gegen die russische Kommandantur im Dorf richtete. Damals sei fürchterliches Chaos im Ort ausgebrochen – Granaten schlugen ein, Schüsse peitschten durch die Luft, und das Fluchen russischer Soldaten sei in die Nacht zu hören gewesen. In Phasen verstärkter Kampfhandlungen hätten oft tagelang Leichen in den Straßen gelegen, die wegen der akuten Lebensgefahr nicht sofort weggeschafft werden konnten. Hin und wieder sei auch vorgekommen, dass russische Soldaten einander im Alkoholrausch erschossen, wofür das Militär nicht selten unbeteiligte Zivilisten verantwortlich machte, deren Familien dann kollektiv bestraft wurden. Auch habe es während des Krieges zur Normalität gehört, dass maskierte Angehörige von Militär- und Polizeikräften zu jeder Tages- und Nachtzeit Hausdurchsuchungen durchführten, um nach Waffen und anderen verbotenen Gegenständen zu suchen.
Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung
Heute weiß man, dass im Rahmen solcher Aktionen, die im russischen Militärjargon als „Säuberungen“ bezeichnet wurden, zwischen 1999 und 2009 nicht weniger als 70.000 Männer verhaftet wurden, von denen die Mehrheit spurlos verschwunden blieb. Die Ruhe, die der Stimme meines Gastgebers beim Erzählen dieser Erlebnisse innewohnte, ließ erkennen, dass der Krieg trotz seiner Grausamkeit längst zu einer alltäglichen Erscheinung für die Menschen in Tschetschenien geworden war. Zum ersten Mal konnte ich das Geschehene mit der Emotion eines Menschen in Verbindung bringen.
An einem anderen Tag zeigte man mir den Rohbau einer Moschee, die in Tschetschenien seit Jahren wie Pilze aus dem Boden sprießen. Auf die Geschichte des Gebäudes angesprochen, bedeutete mir mein Gastgeber, dass diese 1996 auf Geheiß von Zelimchan Jandarbiev errichtet worden sei, der in der Zwischenkriegszeit islamische Missionare aus dem arabischen Ausland nach Tschetschenien geschleust hatte, um den salafistischen Islam zu vermitteln – eine Variante der Religion, die den traditionell im Nordkaukasus verankerten Sufismus als Häresie bekämpft. Wie sich mein Gastgeber erinnerte, hatten er und die anderen Kinder des Ortes damals in einer benachbarten Schule Koranunterricht von Arabern erhalten, die kaum Russisch sprachen. Auch Schamil Basaev habe er damals an der Seite der Fremden gesehen.
Eine politische Diskussion
Eines Abends saßen wir im Obstgarten der Familie zusammen und sprachen darüber, wie die Zukunft Tschetscheniens am besten aussehen sollte. Dabei stellte mein Gastgeber die Notwendigkeit heraus, das Vermächtnis der eigenen Geschichte nicht zugunsten einer von der Politik geschaffenen Fiktion aufzugeben. Was damit gemeint war, kann man gut am Umgang mit dem 23. Februar 1944 erkennen, als die gesamte tschetschenische Bevölkerung nach Zentralasien deportiert wurde. Dabei handelt es sich um ein Ereignis, das als schwerwiegendes Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten kann, in dessen Folge mindestens 25 Prozent der tschetschenischen Bevölkerung ums Leben kamen. Nicht umsonst hat diese Erfahrung bis heute eine konstitutive Bedeutung für die nationale Identität der Tschetschenen und illustriert die enorme Belastung, von der das Verhältnis zu Russland schon damals geprägt war.
Dessen ungeachtet wird das Andenken an die Deportation heute nicht mehr im Rahmen eines Gedenktages gepflegt, sondern stattdessen der „Tag des Vaterlandsverteidigers“ begangen – ein aus Sowjetzeiten stammender Feiertag, dessen Zeremonie am 23. Februar 1944 als Vorwand diente, um die nichtsahnende Bevölkerung in den frühen Morgenstunden aus ihren Häusern zu locken.
Eine Kindheit im Krieg
In den späten Abendstunden ertönten schließlich mehrere Donnerschläge aus des der Ferne. Durch die Hitze hatte ich den Eindruck, ihre Vibrationen in der Luft spüren zu können. Als ich nach der Ursache für diese Erscheinung fragte, entgegnete mir mein Gastgeber, dass dies der Klang der russischen Artillerie in Dagestan sei, wo man gegenwärtig Terroristen jage. Ich solle mir jedoch keine Sorgen machen, da er die Entfernung einschlagender Artilleriegranaten am Klang erkennen könne – eine Fähigkeit, die er bereits als Kind erlernt habe.