Anlässlich des 72. Jubiläums zum Sieg der Sowjetunion über Deutschland ließ der Kreml vor der Weltöffentlichkeit erneut für eine Stunde militärisches Gerät und Soldaten auf dem Roten Platz aufmarschieren. Während die alljährliche Militärparade auf viele Menschen in Europa befremdlich wirkt, hat sie für Russland noch immer große Bedeutung.
Als die deutschen Oberbefehlshaber in der Nacht auf den 9. Mai 1945 die ratifizierende Urkunde über die bedingungslose Kapitulation ihrer Streitkräfte unterzeichneten, war die nationalsozialistische Schreckensherrschaft in Europa endgültig vorüber. Noch heute wird dieses historischen Moments in vielen Ländern mit einem nationalen Gedenktag erinnert. Dennoch haben die meisten Europäer höchstens noch einen abstrakten Bezug zum Zweiten Weltkrieg; die Erinnerung an diese Zeit ist weitestgehend verblasst. Im Gegensatz dazu spielt der Tag des Sieges in Russland eine ungleich gewichtigere Rolle, wo er jedes Jahr mit einer Inbrunst begangen wird, die man in Deutschland nur schwer nachvollziehen kann.
Fragt man amerikanische Politiker, welches Ereignis den Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg markiere, erhält man stets dieselbe Antwort: der D-Day. Und geht man durch das Imperial War Museum in London, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Sieg über Hitler ohne den Heroismus der Briten niemals hätte errungen werden können. Diese und andere von der Subjektivität der eigenen Erinnerung gefärbten Darstellungen mögen ihren Urhebern sowie deren Rezipienten attraktiv erscheinen. Gleichwohl können sie nichts daran ändern, dass die Realität des Krieges meist eine andere war. Dazu gehört, dass der Sieg über Nazi-Deutschland in erster Linie ein Verdienst der Sowjetunion gewesen ist.
Der Krieg als ultimative Katastrophe
Obwohl die UdSSR im Juni 1941 über eine gigantische Streitmacht verfügte, war Stalin nicht dazu in der Lage, sein Land vor dem deutschen Angriff zu schützen. Vielmehr musste er mit ansehen, wie seine Generäle von einer Niederlage zur nächsten taumelten, wie riesige Gebiete innerhalb weniger Wochen von der Wehrmacht überrannt und eine sowjetische Armee nach der anderen in Kesselschlachten mit hunderttausenden Gefangenen vernichtet wurde. Die Verbrechen der deutschen Einsatzgruppen, die hinter der Front bis zuletzt eifrig Zivilisten ermordeten, sowie die schockierenden personellen Ausfälle, unter denen die Rote Armee bis zum Kriegsende litt, bescherten der Sowjetunion schließlich unvorstellbare Verluste in Höhe von 27 Millionen Toten.
Anders als man heute glaubt, war aus sowjetischer Sicht auch nach der Befreiung Stalingrads keineswegs absehbar, dass man den Krieg gewinnen würde. Dies hatte damit zu tun, dass die Wehrmacht auch weiterhin als äußert gefährlicher Gegner in Erscheinung trat, den man trotz des Sieges am Kursker Bogen, wo Berlin ein halbes Jahr später seine letzten Offensivkräfte verlor, noch immer nicht aus dem Land werfen konnte. Erst als es im Sommer 1944 gelang, mit der Heeresgruppe Mitte das Gros der deutschen Truppen im Osten zu vernichten, setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass man die Oberhand gewonnen hatte.
Die Dimension des Schreckens
Um das Ausmaß der Zerstörung zu verstehen, die der Krieg in der Sowjetunion angerichtet hatte, muss man sehen, dass es 1945 kaum eine Familie gab, die keine Angehörigen beklagte. Auch waren weite Landesteile bis zur Unkenntlichkeit verwüstet, Millionen von Menschen entwurzelt und ohne Obdach. Die Versorgungslage war gar derart prekär, dass Moskau zeitweise Lebensmittel aus dem Ausland importieren musste, um eine drohende Hungerkatastrophe abzuwenden. Von dem Hass auf die Deutschen abgesehen, der sich auf dem Vorstoß nach Westen in grausamen Gewaltexzessen und Massenvergewaltigungen Bahn brach, hatten die überlebenden Rotarmisten buchstäblich alles verloren.
Als der Kampf gegen Deutschland, der in der UdSSR in Anlehnung an den Einfall Napoleons von 1812 schon immer als „großer Vaterländischer Krieg“ bezeichnet wurde, nach 4 Jahren tatsächlich vorbei war, musste Stalin erkennen, Herr über ein gigantisches Trümmerfeld mit Millionen Toten zu sein. Hatte der Diktator zu Beginn des Krieges noch ganze zwei Wochen verstreichen lassen, ehe er sich in einer Radioansprache an die Bevölkerung wandte, ließ die offizielle Reaktion des Kreml nun nicht lange auf sich warten. Am 9. Mai 1945 gab Stalin Befehl Nr. 369 heraus, in dem er eine abendliche Feier anordnete. Mehr aber auch nicht. Wenige Stunden später erließ das Präsidium des Obersten Sowjets sodann einen Beschluss, demzufolge der Tag des Sieges mit sofortiger Wirkung als nationaler Feiertag gelten und die Arbeit an ihm ruhen sollte.
Der Tag des Sieges
Obwohl die Feststellung korrekt ist, dass die Feierlichkeiten des 9. Mai auf die Initiative Stalins zurückgehen, hätten deren heutige Form dem Diktator mit Sicherheit missfallen. Der Grund dafür ist, dass Stalin die Erinnerung an den Sieg untrennbar mit seiner eigenen Person verknüpfen wollte. Zwar ließ er die Öffentlichkeit durch eine Militärparade, die am 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz stattfand, zunächst an dem Erfolg teilhaben; in Wahrheit jedoch war Stalin zu keiner Zeit bereit, den Ruhm zu teilen. Die Angst vor der Popularität potentieller Konkurrenten wurde deshalb rasch so groß, dass selbst hochdekorierte Kriegshelden wie Marschall Žukov, der in der Bevölkerung in jenen Tagen äußerst große Popularität genoss, tunlichst darauf achten mussten, nicht zu sehr im Mittelpunkt zu stehen.
Da Stalin eine nationale Erinnerungskultur, die ohne ihn auskam, aufrichtig ablehnte, ließ er den Tag des Sieges bereits am 23. Dezember 1947 zu einem Werktag degradieren und bestimmte stattdessen Neujahr zu einem gesetzlichen Feiertag. Interessanterweise zeigte auch Nikita Chruschtschow keinerlei Interesse, daran etwas Wesentliches zu ändern. Als sich der Sieg über Deutschland 1955 zum zehnten Mal jährte, gingen die Werktätigen der UdSSR wie jeden Montag zur Arbeit und hatten auch keine Gelegenheit, einer Militärparade beizuwohnen, weil die Regierung ein solches Ereignis nicht veranstaltete. Diese Tatsache ist heute allerdings nur wenigen Menschen bewusst und hat dazu geführt, dass man sowohl in Russland als auch in Europa glaubt, die Inszenierung des 9. Mai wäre schon immer in ihrer heutigen Form erfolgt.
Eine politische Kehrtwende
Erst unter Leonid Breschnew vollzog man schließlich die Wende. Nicht nur ließ er 1965 den 9. Mai wieder zu einem gesetzlichen Feiertag aufwerten, sondern ordnete auch an, dass künftig jedes Jahr eine Militärparade auf dem Roten Platz stattfinden sollte. Darüber hinaus stiftete Breschnew 1967 an der Kreml-Mauer vor dem Alexander-Garten das Grabmal des Unbekannten Soldaten, wo seither eine Flamme brennt, die das ewige Andenken an die gefallenen Rotarmisten symbolisiert. Um zu verstehen, warum Breschnew der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes neues Leben einhauchte, muss man folgende Aspekte zur Kenntnis nehmen.
Einerseits sollte die sowjetische Gesellschaft, die bereits vor dem 22. Juni 1941 unter den verheerenden Folgen ihrer sozialistischen Transformation sowie dem Terror Stalins gelitten hatte, unbedingt ein positives Verhältnis zum Staat entwickeln. Andererseits musste es gelingen, die moralische Kluft zu schließen, die zwischen den einzelnen Volksgruppen des Landes bestand, weil Stalin während des Krieges keineswegs damit aufgehört hatte, gewaltsam gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen. Mit Deutschen, Krimtataren, Tschetschenen und etlichen anderen hatte der Diktator ganze Völker deportieren lassen, während die russische Nation zum Retter der zivilisierten Welt stilisiert wurde.
Ein brillantes Kalkül
Die paradox anmutende Entscheidung der sowjetischen Regierung, die Akzeptanz der eigenen Macht ausgerechnet mithilfe der Erinnerung an einen Krieg zu verbessern, dessen Ausmaß sie zu einem nicht unerheblichen Teil selbst zu verantworten hatte, darf aus heutiger Sicht unter der folgenden Feststellung als genialer Schachzug gelten. Vor dem Kampf gegen Deutschland hatte sich die UdSSR ausschließlich auf den Mythos der Oktoberrevolution berufen, als die Bolschewiki von St. Petersburg aus die Macht im Staate an sich rissen – ein Ereignis, das der Regisseur Sergej Eisentsein später ebenso eindrucksvoll wie historisch unrichtig für die Öffentlichkeit inszenierte. Da sich in den 1960er Jahren jedoch immer weniger Menschen für die Parteiideologie der KPdSU interessierten, drohte dieser Mythos zunehmend zu einer zu inhaltslosen Hülle zu werden.
In dieser Situation erkannte die sowjetische Führung im Sieg über Deutschland trotz dessen pyrrhusartigen Charakters die einmalige Gelegenheit, der Erzählung ihrer eigenen Geschichte ein neues Narrativ zu verleihen. Demnach standen nun nicht mehr die Oktoberrevolution und Lenin im Zentrum der Selbstidentifikation, sondern waren der heroische Kampf gegen den Nationalsozialismus und die Idee der Befreiung Europas an die Stelle des ursprünglichen Gründungsmythos getreten.
Hass wird zu Solidarität
Wie klug diese Maßnahme gewählt war, wird vollends erkennbar, wenn man bedenkt, dass es mit ihrer Hilfe möglich wurde, Täter und Opfer miteinander zu versöhnen. Vor dem Krieg waren Millionen Menschen dem Stalinismus zum Opfer gefallen. Durch die Pflege der gemeinsamen Erinnerung an einen Krieg, der im Nachhinein alle Bürger der Sowjetunion zu Helden machte, konnten nun die einstigen Klassenfeinde gleichermaßen an einer nationalen Erfolgsgeschichte teilhaben und ihr vormals zerrüttetes Verhältnis zum Staat damit neu definieren. Aus diesem Grund tragen noch heute zahlreiche Städte der ehemaligen UdSSR den Titel „Heldenstadt“.
Obwohl der 9. Mai nach dem Kollaps der UdSSR in Russland erst seit 1995 wieder offiziell gefeiert wird, ist seine Tradition bis heute ungebrochen. Die faszinierende Inbrunst, die man jedes Jahr bei den Teilnehmern der Feierlichkeiten beobachten kann, ist dabei ebenso aufrichtig wie authentisch. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die am 9. Mai gelebte Erinnerung zu einer staatlich gewollten Inszenierung gehört. Weitaus entscheidender ist nämlich, dass der Sieg über Hitler sowie die großen Opfer, die die Bürger der Sowjetunion dafür bringen mussten, zu einem konstitutiven Merkmal der nationalen Identität Russlands geworden sind.
Ein positives Selbstbild
Das Bewusstsein für diese Zusammenhänge ist essentiell, weil gesunde Beziehungen zu Moskau ohne sie unmöglich bleiben. Darüber hinaus können sie dazu beitragen, mehr Verständnis für Russland aufzubringen, wenn in einigen Städten des Landes vereinzelt wieder Stalin-Denkmäler errichtet werden. Wie die obigen Ausführungen zeigen, tun die Russen dies nämlich nicht etwa, um den Terror des Diktators zu verklären, sondern um an die Größe und den Ruhm vergangener Tage sowie den hart erkämpften Frieden zu erinnern.
Was in Europa aufgrund mangelnder Sensibilität sowie akuter Unkenntnis der russischen Geschichte bis heute für Kopfschütteln sorgt, ist in Wahrheit nichts weiter als das legitime Streben einer Nation, sich ein positives Selbstbild zu schaffen. Dabei handelt es sich um einen Prozess, den womöglich auch Deutschland in Zukunft wird anstoßen müssen. Denn die Geschichte lehrt uns, dass negative Selbstbilder ebenso wenig für das Gedeihen einer Gesellschaft geeignet sind wie die maßlose Überhöhung der eigenen Identität.
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