Seit dem Zerfall der UdSSR hat Tschetschenien traurige Berühmtheit in der Welt erlangt. In dieser Weise ist das kleine Land im Nordostkaukasus vor allem wegen der zwei grausamen Kriege bekannt geworden, die Moskau zwischen 1995 und 2009 in Tschetschenien geführt hat.
Seit dieser Zeit hat sich das in Russland historisch stark belastete Tschetschenenbild zunehmend auch in Europa verbreitet, mit der Folge, dass zahlreiche Menschen glaubten, die Tschetschenen seien islamische Fanatiker. Dabei handelt es sich jedoch um einen fatalen Trugschluss. Denn tatsächlich hat sich der tschetschenische Islam niemals aggressiv nach außen gerichtet, sondern war durch seine sufische Prägung stets gemäßigt.
Bis heute hat sich diese Situation jedoch grundlegend geändert. So hat das Land im Westen vor allem wegen seines islamischen Terrorismus traurige Berühmtheit erlangt. Denn seit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Überwindung ihrer atheistischen Staatsdoktrin spielt sich eine beispiellose Islamisierung in Tschetschenien ab, die unter anderem dazu geführt hat, dass die Dichte der islamischen Infrastruktur heute größer ist als je zuvor.
Der blutige Konflikt mit Moskau
Zudem hat der tschetschenische Separatismus einen langjährigen Konflikt mit Moskau entfacht, in dessen Verlauf aus Tschetschenien stammende Islamisten Russland immer wieder mit blutigen Anschlägen bis ins Mark erschüttert und dabei nicht selten mehrere hundert Todesopfer verursacht haben.
Aber auch die Tatsache, dass tschetschenische Kämpfer zu den gefürchtetsten Einheiten des Islamischen Staats gehören, in dessen Namen sie für die Errichtung eines Gottesstaates grausame Verbrechen begehen, scheint darauf hinzudeuten, dass islamischer Fundamentalismus in Tschetschenien auf eine lange Tradition zurückblickt.Dies ist jedoch nicht der Fall.
Der Islam der Tschetschenen ist noch jung
Denn im Gegensatz zu anderen Regionen des russischen Nordkaukasus, wie etwa Dagestan, dessen Islamisierung bereits im 8. Jahrhundert mit den Eroberungen des arabischen Kalifats seinen Anfang nahm, konnte der Islam in Tschetschenien erst viele Jahrhunderte später Fuß fassen.
Als im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts meist aus Deutschland stammende Ethnologen und Geographen in den östlichen Nordkaukasus kamen, um die Region für das Zarenreich zu erforschen, stellten sie fest, dass bei den Tschetschenen kein Islam, sondern eine spezielle Form von religiösem Synkretismus vorlag.
Der Islam spielte zunächst keine prägende Rolle
Dieses Gemisch war neben einer Vielzahl heidnischer Elemente auch von christlichen Einflüssen geprägt, weshalb man annimmt, dass die tschetschenische Bergbevölkerung ursprünglich einmal christianisiert worden war. Mehrere Kirchenruinen, die noch heute an der Grenze zu Georgien existieren und nachweislich bis ins 19. Jahrhundert als sakrale Wallfahrtsorte verehrt wurden, beweisen, dass die Verbreitung des Christentums einst von hier aus erfolgte.
Daher überrascht es nicht, dass die ersten Forschungsberichte zu den Tschetschenen kaum nennenswerte Erwähnungen des Islam enthalten. Zwar finden sich in ihnen vereinzelt Notizen, denen zufolge es unter ihnen bereits Muslime gegeben hat, doch reicht die Beweiskraft derartiger Schilderungen nicht aus, um von einem prägenden Phänomen zu sprechen.
Wilde Räuber und gefährliche Banditen
Dass es sich bei solchen Einschätzungen jedoch keineswegs um Fehlurteile, sondern um authentische Darstellungen handelt, lässt sich auch aus den russischen Militärberichten ersehen, in denen die Tschetschenen zunächst als wilde Räuber und gefährliche Banditen, nicht aber als Muslime, geschweige denn als religiöse Fanatiker, beschrieben werden.
Trotzdem ist islamisch geprägter Widerstand bei den Tschetschenen erstmals für das Jahr 1785 bezeugt, als es unter der Führung des Imam Mansur zu einem Großaufstand gegen das zarische Kolonialregime kam. Dass es sich dabei in Wahrheit aber nicht um einen religiösen Kampf, sondern vielmehr um eine politische Widerstandsbewegung als Reaktion auf die Expansion des Zarenreichs handelte, hielt die russischen Chronisten nicht davon ab, die Tschetschenen in der Folge mit dem Stigma des islamischen Fanatismus zu versehen.
In Tschetschenien hat sich der Sufismus verbreitet
Unter diesen Bedingungen hatte sich das russische Tschetschenenbild bis ins frühe 19. Jahrhundert bereits entscheidend verändert. Dazu trug auch bei, dass St. Petersburg bei dem Versuch, das Land gewaltsam zu unterwerfen, jetzt verstärkt auf den Widerstand der Bevölkerung stieß, die ihre Anstrengungen in besonders schweren Zeiten nun immer öfter auch religiös legitimierte. Dadurch verfestigte sich allmählich der Eindruck, der tschetschenische Islam habe sich von Anfang an gegen Russland gerichtet – ein weiterer Irrtum.
Tatsächlich liegt in Tschetschenien mit dem Sufismus eine Spielart des Islam vor, die nicht weltlich orientiert, sondern vielmehr durch seine Mystik auf das Transzendente gerichtet ist. Im Gegensatz zu den Strömungen der islamischen Orthodoxie, wie zum Beispiel dem Salafismus, der jedwede Neuerungen der Religion kategorisch als Häresie zurückweist, lehrt der Sufismus seine Anhänger einen asketischen Lebenswandel sowie eine spirituelle Ausrichtung auf Gott; religiös legitimierte Gewalt sowie das Streben nach weltlicher Macht waren dem tschetschenischen Islam also zunächst fremd.
Russland hat den Islam der Tschetschenen politisiert
Dass der Islam in Tschetschenien in der Folge trotzdem zu einem Synonym von religiösem Fanatismus wurde, lag vor allem an dem Kolonisationsdruck des Zarenreichs, den im 20. Jahrhundert auch die Sowjetunion weiter aufrechterhielt. Denn immer dann, wenn die Last des Krieges besonders schwer wog und der bewaffnete Kampf die einzige Möglichkeit bot, um die eigene Freiheit gegenüber der Zentralmacht zu bewahren, erfolgte eine religiöse Aufladung des Widerstands und damit auch eine Politisierung des Islam.
Dieses Prinzip zieht sich indes wie ein roter Faden durch die Geschichte der Tschetschenen und hat seit den Tagen des Kaukasus-Krieges (1817–1864) nichts von seiner Gültigkeit verloren. So ist es kein Zufall, dass auch die jüngste Erstarkung islamistischer Kräfte genau in die Zeit der beiden Tschetschenienkriege (1995–2009) fällt.
Erhellend ist das Beispiel Tschetscheniens aber auch deshalb, weil es illustriert, wie die dauerhafte Applizierung militärischer Gewalt durch eine Zentralinstanz selbst in einer so friedfertigen Strömung wie dem Sufismus die Freisetzung radikalisierender Energien bewirken kann, die im Falle Russlands zu den verheerendsten Terroranschlägen in der Geschichte eines modernen Staates geführt haben.
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